Fall Nr. 1 der „Kärntner Mordsbullen“

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Klappentext

Wie weit darf ein Polizist gehen, der von der Schuld eines Mannes überzeugt ist, ihn aber nicht vor Gericht bringen kann?
Chefinspektor Falk, leitender Ermittler der Kripo Klagenfurt, übernimmt einen scheinbar unspektakulären Fall. Ein pensionierter Rechtsanwalt bricht sich bei einem Sturz auf der Kellertreppe das Genick. Fremdverschulden scheint ausgeschlossen. Bis ein anonymer Brief eintrifft, der auf das ungewöhnliche Sexualleben der dreißig Jahre jüngeren Gattin des Opfers hinweist. Falk stattet ihr einen Besuch ab, der ihn rasch in die weitverzweigten und ziemlich stacheligen Netze einer wohlhabenden Familie führt. Über zwei Jahrzehnte hinweg zog einer ihrer Angehörigen Erbschaften an wie ein Magnet. Ein Zufall?
Der Chefinspektor riskiert sehr viel, um diese Frage zu beantworten.
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Rezension

Format: Kindle Edition
Ich bin beim Stöbern im Kindle-Shop auf das Buch gestoßen und habe es bestellt, weil ich den Schauplatz Klagenfurt kenne. Diesen Kommentar schreibe ich, weil es für mich positiv war, wieder einmal auf einen Krimi zu stoßen, in dem es um normale Menschen geht – um ein bzw. mehrere „normale“ Verbrechen mit nachvollziehbaren Motiven und um einen Ermittler, der kein unkomplizierter Mensch ist, aber auch kein Freak. Er braucht keine übersinnlichen Methoden und utopischen Arsenale und es geht nicht gleich um das Schicksal der ganzen Welt, die er vor dem Untergang retten muss. Die Handlung und die Auflösung sind deshalb nicht harmlos – aber insgesamt so realistisch, dass man sich vorstellen kann, es könnte wirklich passieren.
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Leseprobe

1___
Eine Collage aus Zeitungsschnipseln schwebte einige Sekundenbruchteile in der Luft, ehe sie auf die offene Akte  sank, die Falk gerade bearbeitete.
„Schau dir das an.“
Er hob den Blick und wunderte sich nicht zum ersten Mal, was Chefinspektor Lacher bei den Bullen verloren hatte. Hellblondes, zu langes Haar, gebräunte Haut, leuchtend blaue Augen, von unzähligen Lachfältchen gesäumt – er hätte prächtig als Skilehrer in eines der ehemaligen Tiroler Kuhdörfer gepasst, wo sie jetzt die Touristen molken und sich dabei goldene Nasen verdienten. Falk senkte den Blick auf die Collage und musste sich erst in die verschiedenen Schriftgrößen und -typen einlesen.

Frau Weinstein, die Hure, lässt es sich vom geilen Gino besorgen, während sich ihr Mann im Keller den Hals bricht. Glaubt ihr wirklich, dass das ein Unfall war? So dumm ist nicht einmal die Polizei.

„Wer ist Frau Weinstein?“
„Vor zwei Wochen passierte ein Unfall in einer der Villen an der Lend. Der Hausherr, Dr. Richard Weinstein, 63 Jahre, stürzte über die Kellertreppe und war auf der Stelle tot – Genickbruch. Seine Frau befand sich in der Mansarde. Die Haushälterin hatte Besuch von ihrer Mutter. Sie saßen in der Küche und tranken Kaffee. Weinstein ging an der offenen Tür vorbei und grüßte, blieb aber nicht stehen. Er hatte die Hände voll, ich weiß nicht, womit. Sekunden später hörten die Frauen einen Schrei. Sie eilten zur Kellertreppe, die nur ein paar Meter entfernt ist. Weinstein lag regungslos am Ende der Treppe. Die Haushälterin griff sofort zum Handy und alarmierte den Arzt. Dann ging sie die Stufen hinunter und sah, dass jede Hilfe zu spät kam. Außer dem Toten und den drei Frauen befand sich niemand im Haus.“
„Wer sagt das?“
„Alle drei. Der Arzt traf ein, stellte offiziell den Tod fest und rief eine Funkstreife. Die Kollegen nahmen die Aussagen der Gattin sowie der Haushälterin und ihrer Mutter auf und machten ein paar Fotos. Einen Verdacht auf Fremdverschulden hatten sie nicht. Die Haushälterin arbeitet seit über 30 Jahren dort, ihre Mutter wird demnächst 83. Hier ist der Bericht.“
Falk warf einen Blick auf die Fotos. Sie zeigten die Treppe und den Toten aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
„Wo ist das Kuvert?“
Lacher reichte Falk eine Klarsichtfolie mit dem geöffneten Briefumschlag.
„Da hat er sich nicht so viel Mühe gemacht wie mit den Schnipseln. Einfach ein Etikett ausgedruckt.“
Auf dem Etikett stand ‚Polizeidirektion Klagenfurt‘ und die Adresse.
„Die Hure und der geile Gino – muss wohl ihr Liebhaber sein, wenn’s stimmt. Im Bericht taucht er nicht auf. Sie lässt es sich besorgen, während ihr Mann die Treppe runterfällt. Also können weder sie noch Gino ihn gestoßen haben. Aber Gino müsste im Haus gewesen sein. Woher weiß der Schreiber das alles?“
Falk blickte Lacher fragend an.
„Die Mutter der Haushälterin – unwahrscheinlich. Die Haushälterin selbst – möglich. Oder jemand aus der Nachbarschaft. Oder jemand, der Frau Weinstein nicht mag und eine blühende Fantasie hat.“
„Eine ziemlich schmutzige.“
„Warum sollte Schmutz nicht blühen?“
Falk ließ sich das kurz durch den Kopf gehen. Lacher neigte dazu, Fragen aufzuwerfen, die man nicht so ohne weiteres beantworten konnte. Doch jetzt musste er sich um einen anonymen Brief, einen Bericht und ein paar Fotos kümmern. Er bewahrte die Frage seines Stellvertreters im Gedächtnis, um sich später damit zu beschäftigen, holte eine große, runde Lupe aus einem Fach seines Schreibtischs und begann, die Bilder eingehend zu prüfen. Lacher legte sein Gewicht auf die rechte Hinterbacke und diese auf ein Eck des Tisches und wartete. Als Falk die Lupe wegnahm, fragte er: „Was tun wir?“
„Wir haben einen neuen Hinweis zu einem Todesfall erhalten. Als brave Bullen kümmern wir uns darum. Wofür hältst du das?“
Falk reichte Lacher eines der Fotos und die Lupe und wies mit dem Zeigefinger auf eine der Stufen. Lacher musterte die Stelle.
„Ziemlich unscharf, könnte ein Tuch oder ein Stück Stoff sein, das da liegt. Es hat genau die Farbe der Fliesen.“
„Auch davon ist im Bericht nichts zu finden.“
„Weinstein hatte ja die Hände voll. Wahrscheinlich ist das Ding hinunter gefallen, als er stürzte.“
„Durchaus möglich. Vielleicht ist es aber schon dort gelegen und hat ihn überhaupt erst zu Fall gebracht. Frag‘ die Kollegen von der Streife, ob sie sich an ein Tuch erinnern, immerhin haben sie es fotografiert. Falls ja, dann frag‘ sie, warum sie es in ihrem Bericht nicht erwähnt haben.“
Lacher verließ den Raum. Falk lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Weinstein – der Name kam ihm bekannt vor. Was, wie er selbst wusste, nicht viel zu sagen hatte, da es auf eine Menge Namen zutraf. Er verfügte über ein phänomenales Gedächtnis für Namen und ein phänomenales Gedächtnis für Gesichter, aber mit der Zuordnung haperte es, so dass seine beiden phänomenalen Gedächtnisleistungen unterm Strich keine phänomenalen Ergebnisse erzielten. Er dehnte diesen Gedanken auf andere Inselbegabungen aus, die für sich allein prächtig dastehen, aber mangels passender Schaltkreise und Verknüpfungen fast wirkungslos bleiben. Wie viele verhinderte Maler mochten schon die genialsten Bilder im Kopf gehabt haben, konnten sie aber wegen zweier linker Hände nicht auf die Leinwand bringen? Und so gab es wohl auch verhinderte Komponisten und Dichter und Schriftsteller, vielleicht aber auch verhinderte Politiker, Diktatoren und Massenmörder. Womit sich in bestimmter Hinsicht ein natürlicher Ausgleich der unverwirklichten Potentiale ergab. Darüber nickte er ein.

2___
Einer der weiblichen Inspektoren seines Teams weckte ihn mit einem Kaffee und versagte sich jede persönliche Bemerkung, wofür Falk dankbar war.
Der Kaffee duftete nach gar nichts außer einem Hauch von Spülmittel, die Inspektorin duftete nach Flieder. Sie hieß Schilling – ein Name, der fade Scherze und Bemerkungen anzog wie ein Magnet Eisenspäne. Sie hatten in ihrer ernsten, aufmerksamen Miene keine Spuren hinterlassen. Falk lächelte sie gerne an, weil ihr angeborener Ernst dann ebenfalls einem Lächeln wich, das ihr stilles, ovales Gesicht erstrahlen ließ.
„Sagt Ihnen der Name Weinstein etwas?“
„Der Unfall in der Villa? Es gab eine Notiz in der Zeitung. Scheint ein bekannter Wirtschaftsanwalt gewesen zu sein. Die Weinsteins bilden die Stammlinie einer ganzen Dynastie von Anwälten und Notaren.“
Falk hatte die Notiz nicht gelesen, aber blitzartig fiel ihm ein, wer im Haus dazu Auskunft geben konnte. Ein denkwürdiger Tag. Er wählte die Nummer seines Vorgesetzten, der ihm zehn Minuten seiner kostbaren Zeit zusagte.
Oberst Prettner, Leiter des Landeskriminalamts, telefonierte, als Falk sein Büro betrat. Er telefonierte so viel, dass seine Leute beunruhigt aufmerkten, wenn sie ihm einmal ohne Handy am Ohr begegneten. Es gab jüngere Beamte, die schwuren Stein und Bein, dass ihnen das noch nie passiert sei. Prettner war ein begnadeter Netzwerker, ein Genie auf diesem Gebiet. Nachdem es unter den höheren Beamten eine große Mehrheit gibt, die auf gar keinem Gebiet Genialität vorweisen – außer vielleicht in Sturheit, Langeweile und Sitzvermögen – musste man mit Prettner als Vorgesetztem zufrieden sein. Sofern man nichts Unmögliches von ihm verlangte wie klare Entscheidungen oder Loyalität. Mit einer Geste forderte er Falk auf, Platz zu nehmen. Er war auch höflich genug, sein Telefonat nicht endlos auszudehnen.
„Der Freddy“, sagte er zufrieden lächelnd, als er auflegte. „Hohes Tier im Ministerium. Die Chefin hört auf ihn.“
Falk ging davon aus, dass damit die Innenministerin gemeint war, die nach weit verbreiteter Überzeugung anstelle eines Herzens ein Stück Granit in ihrer Brust trug und ihre angeborene Bösartigkeit im Tonfall einer schartigen Blechschere unters Volk brachte. Allerdings hatten weder Granit noch Bösartigkeit noch Blechschere ihre Politkarriere gehemmt, woraus jeder seine Schlüsse ziehen mag.
„Sagt Ihnen der Name Weinstein etwas?“
„Der kürzlich verunfallt ist? Natürlich. Alte Klagenfurter Familie. Ich war auf dem Begräbnis.“
„Kannten Sie ihn näher?“
„Nun, wie man sich halt kennt. Ehemals erfolgreicher Anwalt, gesellig, sportlich, junge Frau, beste Kontakte … Gibt es da was wegen des Unfalls?“
Oberst Prettners hellwache Instinkte sprangen an. Nur keine Skandale! Falk fasste den Bericht zusammen und zeigte ihm den anonymen Brief sowie das Foto mit dem im Bericht nicht erwähnten Stoffstück. Prettner verabscheute Komplikationen, doch auch ihm war klar, dass sie den Hinweis auf ein mögliches Verbrechen nicht ignorieren konnten. Wer wusste schon, an wen sich der Schreiber noch wenden mochte?
„Was wollen Sie unternehmen?“
„Ich dachte daran, einen der Inspektoren zu Frau Weinstein zu schicken.“
Sofort – und nicht unerwartet – unterbrach ihn sein Chef.
„Das kommt gar nicht in Frage. Die Frau ist um vieles jünger als ihr Mann und gerade erst Witwe geworden. Da braucht es jemanden mit Erfahrung und Feingefühl. Fingerspitzengefühl, Diskretion. Das müssen Sie selbst machen.“
„Und die Raubüberfälle?“
„Um die soll sich Lacher kümmern.“
Das Telefon läutete. Prettner hob ab und entließ Falk mit einem Wink. Der Anrufer zählte allerdings nicht zur höchsten Kategorie in seinem verschlungenen Beziehungsgeflecht, denn der LKA-Leiter bedeckte die Muschel mit der Hand und gab dem Chefinspektor noch eine Mahnung mit.
„Seien Sie behutsam. Die Familie hat viel Einfluss.“
Falk kopierte den Brief und brachte das Original bei der Kriminaltechnik vorbei. Dann verließ er das LKA und steuerte, stets auf der Suche nach Wärme, einen frühen Glühweinstand an, holte einige der Zigaretten nach, die er im Büro nicht mehr rauchen durfte, und begab sich anschließend zu Fuß auf den Weg.

3___
Ein hoher Eisenzaun mit kunstvoll geformten, bösartig wirkenden Spitzen trennte das Grundstück von der Tarviserstraße, die zwischen dem schnurgeraden Lendkanal, seiner steilen Böschung, den alten Alleebäumen auf der einen und einem frisch asphaltierten Gehsteig auf der anderen Seite verlief. Die zweigeschossige Villa lag mitten in einem parkähnlichen Garten, der in der fortschreitenden, nebelverhangenen Dämmerung fast endlos erschien. Falk drückte auf die Klingel am Gartentor.
Nach einer Weile meldete sich eine Frauenstimme mit einem fragenden: „Ja?“
„Chefinspektor Falk von der Kriminalpolizei.“
Er warf voreilig seine Zigarette weg, denn es dauerte eine weitere Minute, ehe die Pforte aufsprang. Eine junge, in schwarze Jeans und einen schwarzen Pullover gekleidete Frau erwartete ihn in der offen stehenden Haustür. Sie trug ihr kurz geschnittenes Haar zu einer steifen Bürste geföhnt und mit gelben und roten Strähnen verziert. Kurz reichte sie ihm ihre schlaffe Hand wie einen toten Gegenstand, den man gerne wieder loslässt.
„Frau Weinstein?“, fragte er.
„Ja.“
Sie bedeutete ihm einzutreten, schloss sorgfältig die Türe und wandte sich wieder Falk zu.
„Was hat die Kripo mit einem Unfall zu tun?“
Weinsteins Witwe war knapp über dreißig, wie er wusste, hätte mit ihren kindlichen Zügen aber auch für zwanzig durchgehen können. Ihre halb angriffslustige, halb defensive Haltung mit den vor der Brust verschränkten Armen verstärkte diesen jugendlichen Eindruck. Sie musterte ihn misstrauisch.
„Ich möchte Ihnen zunächst mein Beileid aussprechen.“
Kaum merklich nickte sie, ihre Züge und ihr Blick verrieten keine Emotion.
Diese ersten Worte tauschten sie in einem großzügig dimensionierten Vorraum aus, der in den klaren Linien des Bauhauses entworfen und eingerichtet worden war. Auf den  Kleiderhaken hingen schichtenweise Mäntel und Jacken und überall standen und lagen Schuhe und Stiefel. Ausschließlich Modelle für Frauen. Recht teure Modelle, wie Falk zu erkennen glaubte.
„Ich habe gerade meine Sachen durchgesehen …“
„Wollen wir nicht hineingehen? Sie könnten sich setzen.“
„Das ist nicht nötig“, erwiderte sie und bekräftigte ihre Ablehnung, indem sie sich mit den Schultern gegen die Wand lehnte. Ohne erkennbare Energie, Interesse und Spannkraft erinnerte sie ihn seltsamerweise an die unglückliche Topfpflanze in seinem Büro, die sich nur mit Mühe aufrecht hielt. Er zuckte die Achseln.
„Wir haben einen Hinweis erhalten, deshalb bin ich hier.“
Frau Weinstein wäre durchaus hübsch gewesen, wenn ihre Mundwinkel weniger entschieden nach unten gewiesen hätten. Sie wirkte nicht traurig, nur missmutig, passiv und eben pflanzenhaft und sie ging ihm, wie er sich eingestand, schon jetzt auf die Nerven. Er dachte an Oberst Prettners Ermahnung und unterdrückte einen Seufzer.
„Einen Hinweis?“, fragte sie mit ihrer leicht schleppenden Stimme. Er nickte.
„Zeigen Sie mir bitte die Stiege, über die Ihr Mann gestürzt ist.“
Kommentarlos setzte sie sich in Bewegung. Sie durchquerten eine Halle, von der eine breite Treppe nach oben führte, und gingen an mehreren hohen, zweiflügeligen Schleiflack-Türen vorüber. Am Ende eines Ganges befand sich eine weitere Tür, hinter der sich eine große Abstellkammer mit Regalen voll von Reinigungsmitteln und einer Fülle von Besen, Bürsten, Wischern und Staubwedeln verbarg. Wenn Schmutz blühen konnte, sprach nichts dagegen, dass Sauberkeit roch. Hier roch es nach Sauberkeit. Falk fiel auf, dass gleich drei Staubsauger an der Wand hingen. Er konnte den Sinn eines Zweit- und sogar Drittwagens nachvollziehen, aber wer um alles in der Welt braucht einen Zweit- und Drittstaubsauger? Einen Teil der rechten Wand beanspruchte eine Nische. Sie bildete den oberen Absatz jener Treppe, die dem Hausherrn zum Verhängnis geworden war. Julia Weinstein machte Licht.
„Da ist sie.“
Schon wieder lehnte sie an der Wand. Falk blickte nach unten. Bei der Kellerstiege hatten die Erbauer der Villa gespart. Sie passte gar nicht in das großzügige Haus, so steil angelegt und mit schmalen Auftritten. Leicht vorstellbar, dass man sich den Hals brach, wenn man hinunter stürzte. Er zog das Foto aus der Tasche, auf dem andeutungsweise das Tuch oder Stoffstück zu sehen war, das farblich mit dem Sienarot der Fliesen übereinstimmte. Es zeigte die Treppe genau von seinem jetzigen Standort aus. Unten lag noch Weinstein, zusammen gekrümmt, das Gesicht abgewandt.
Er hielt ihr das Foto hin, wobei er die Leiche mit seinem Daumen abdeckte. Mit einem Finger deutete er auf das Stoffstück.
„Was könnte das sein?“
„Das ist Richards Schal.“
„Wo ist er jetzt?“
„Im Keller. Dr. Koch hat ihn aufgehoben, damit nicht noch jemand zu Schaden kommt.“
Also hatte schon der Arzt einen Zusammenhang zwischen dem Kleidungsstück und dem Sturz vermutet. Falk steckte das Foto wieder ein und ging nach unten. Es überraschte ihn nicht, dass sie oben angelehnt stehen blieb. Apathische Topfpflanzen bewegen sich nicht so gerne. Er fand einen Lichtschalter und sah sich um. Auch hier herrschte absolute Ordnung – mit einer Ausnahme. Der Schal war achtlos über einen großen Haken geworfen worden, an dem – Falk konnte es kaum glauben – ein weiterer Staubsauger hing. Er nahm das Kleidungsstück herunter. Es war aus hochwertiger Wolle gefertigt, leicht und warm. Die Oberfläche schimmerte im Licht der grellen Kellerbeleuchtung. Falk entfaltete eine Plastiktüte, überlegte es sich aber anders und legte den Schal sorgfältig auf eine Treppenstufe, so dass sein Rand genau mit der vorne abgerundeten Fliesenkante abschloss. Wenn er glattgestrichen dalag, verschmolz er geradezu mit der Stufe. Die feinen Wollfasern glitten bei der leichtesten Berührung mühelos über die glatte Fliese. Für einen Mann, der von oben kam und noch dazu etwas trug, ein praktisch unsichtbares, aber hoch wirksames Gleitmittel, sobald er darauf trat. Wenn der Schal versehentlich zu Boden fiel und sich dabei fältelte, sah man ihn wesentlich leichter. Durchaus möglich also, dass er schon vorher harmlos am rechten Treppenrand gelegen hatte. Ebenso konnte er jedoch im Verlauf des Sturzes mitgerissen worden und dann liegen geblieben sein. Sollte diese Lesart zutreffen, gab es jemanden, der eine ebenso perfide wie wirkungsvolle Falle eingerichtet hatte. Viel unauffälliger als etwa eine gespannte Nylonschnur, die nach dem Anschlag rasch entfernt werden muss und dennoch an der Wand verräterische Spuren hinterlässt.
Falk faltete den Schal zusammen und schob ihn in die Plastiktüte. Er trat an einen der Metallschränke, die in Reih und Glied an den Wänden standen, versehen jeweils mit Listen, sorgsam in Klarsichthalterungen verpackt. Oben stand groß die Nummer des Schranks, dann Fach 1, darunter die einzelnen Positionen. 1. Ananas, Scheiben, 2. Ananas, Stücke, 3. Artischocken, Natur, 4. Artischocken, gebraten, 5. Artischocken, ital. Kräutermischung, 6. Bohnen, groß, weiß, 7. Bohnen, klein, weiß, 8. Bohnen, Kidney, 9. Bohnen, Käferbohnen, usw. In der Spalte rechts daneben war jeweils die Menge handschriftlich eingetragen. Wurde etwas entnommen oder ergänzt, strich der Hüter dieses fabelhaften Systems die alte Zahl durch und setzte daneben die neue. Über der letzten Spalte stand Ablauf, darunter Monat und Jahr des vermutlich ältesten Produkts, das bestimmt ganz vorne zur Entnahme bereit lag. Falk versuchte den Schrank zu öffnen, doch er war abgesperrt. Langsam bewegte er sich von Liste zu Liste und empfand vages Staunen ob der Vielfalt und Menge an Lebensmitteln, die hier gelagert wurden. Die bescheidenen Vorräte seines eigenen Haushalts waren bunt durcheinander gemischt und gestapelt und wenn an einem Samstagabend eine entscheidende Zutat fehlte und die Gäste schon vor der Tür standen, konnte man Gift darauf nehmen, dass sie sich nicht unter den Beständen befand.
Er entdeckte einen reich sortierten Weinkeller, einen Raum voller teurer Sportgeräte, penibel gepflegt und geordnet, und eine Eisentür, neben der an einem Haken ein Schlüssel hing. Er öffnete sie und fand sich am unteren Ende einer betonierten Auffahrt wieder, breit genug, um mit einem Lieferwagen auf Kellerniveau zurückzustoßen. Ein bequemer zweiter Zugang, der den möglichen Täterkreis – sofern eine Tat vorlag – mit einem Schlag beträchtlich erweiterte.
Falk schloss die Tür und kehrte über die Stiege zu Frau Weinstein zurück. Sie hatte immer noch die Arme vor der Brust verschränkt und betrachtete ihn mit dieser Mischung aus Gleichgültigkeit und schlechter Laune, an die er sich langsam zu gewöhnen begann. Ein griesgrämiger Philodendron. Nicht ganz ungiftig, wie er sich erinnerte.
„Haben Sie ihn gefunden?“, erkundigte sie sich desinteressiert.
„Wen?“, fragte er verblüfft.
„Na, den Schal. Den haben Sie doch gesucht, schon vergessen?“
Der gut gefüllte und wohl geordnete Keller, bestimmt nicht ihr Werk, hatte ihn aus irgendeinem Grund aufgeheitert. Er lächelte sie an und nahm den Faden seiner früheren Überlegungen wieder auf.
„Warum lag er auf der Treppe?“
„Richard wird ihn verloren haben, als er stürzte.“
Nun zog er wieder ein Foto hervor, auf dem der Tote groß abgebildet war. Er trug einen Trainingsanzug, unter der Jacke einen Rollkragenpulli. Diesmal hatte er keine Hemmungen, es ihr zu zeigen.
„Warum sollte er im Haus einen eleganten Schal tragen, noch dazu zu diesem Outfit? Das ergibt keinen Sinn.“
Sie wurde ein wenig bleich um die Nase und schwieg.
„Gehen Sie oft in den Keller?“
„Nie. Er wollte es nicht. Er hatte panische Angst davor, dass ich etwas durcheinander bringen könnte.“
„Ihr Gatte war sehr ordnungsliebend?“
„Kann man so sagen. Er trieb es auf die Spitze. Es machte ihn schon krank, wenn ich nicht pünktlich meine Tage bekam.“
Falk wusste, was in dem Bericht stand, hatte in seiner Laufbahn aber gelernt, dass die alte Bullenmanier, Fragen doppelt und dreifach zu stellen, durchaus ihre Berechtigung besaß.
„Wo hielten Sie sich auf, als es passierte?“
„Im Dampfbad.“
„In welchem?“
„Wir haben eines im Dachgeschoss.“
„Haben Sie nichts gehört?“
„Im Keller kann Lady Gaga ein Konzert geben und Sie merken oben nichts davon.“
„Führen Sie mich hin.“
Resigniert ließ sie die Arme sinken.
„Kommen Sie.“
Wieder folgte er ihr, diesmal durch die Halle und über die breite Treppe nach oben. Aus dem ersten Stock führte eine schmalere Treppe in die Mansarde. Sie passierten zwei schwere Türen – alles in dem Haus, ob aus Holz, Stein oder Glas, schien massiv und gut gearbeitet – und gingen schließlich durch eine stark gedämmte Schleuse, hinter der das Dampfbad lag. Es hatte nichts mit einer jener Dampfkammern zu tun, die man sich für ein paar Tausend Euro in ein großes Badezimmer oder in den Keller stellt. Funkelnde Fliesen in verschiedenen Größen und Formen kleideten den Raum aus, inklusive zweier Erker mit Fenstern. Das neblige Halbdunkel verbarg die Silhouette des Nachbarhauses, doch fast gespenstisch hingen, teilweise von Ästen verdeckt, matte, gelbe Vierecke hinter den Bäumen des Parks. Eine Vielzahl winziger Leuchtmittel veränderte bei jeder Bewegung die Brechung und Spiegelung des Lichts. Falk, der das kalte Feuer von Steinen mochte, fühlte sich in das Innere eines Diamanten versetzt. In der Mitte des Dampfbads, das bestimmt Platz für acht oder zehn Personen bot, thronte auf einem glitzernden, halbhohen Podest eine große, dunkle Steinplatte. Marmor, vermutete er, und bestimmt beheizt. Auf der Platte lagen in Schichten mehrere flauschige, blaue Badetücher.
Frau Weinstein merkte, dass der Raum ihn beeindruckte.
„Unser Caldarium“, sagte sie mit einem Anflug von Stolz.
„Caldarium?“
„Der lateinische Name. Richard hat es so genannt.“
„Wann haben Sie es zuletzt benützt?“
„Gar nicht mehr seit dem Unfall.“
Das oberste Tuch wies Flecken auf, die dem anonymen Briefschreiber Recht geben mochten. Leicht möglich, dass man im Labor Sekret und Sperma entdecken würde. Nach zwei Wochen. Die Frau hatte wirklich nichts vom Ordnungssinn ihres Gatten.
„Sie waren nicht allein“, stellte er fest, während er mit seinem Handy ein Foto von dem Stapel machte. Als er aufblickte, sah sie ihn fest an, ihre dunklen Augen erinnerten ihn an andere dunkle Augen und er war für einen Moment verwirrt.
„Spielt das eine Rolle?“, fragte sie mit ihrer leicht ermüdenden Philodendronstimme.
„Wäre durchaus möglich. Wie heißt er?“
Nun wurde sie doch ein wenig wütend, allerdings ohne etwas abzustreiten.
„Wollen Sie ihn in irgendwas hineinziehen?“
Falk hatte keine Lust, ein riesiges Badetuch mitzuschleppen, also schnitt er mit seinem Taschenmesser den Streifen mit den Flecken ab und verstaute ihn in einer weiteren Plastiktüte.
„Dürfen Sie das?“, fragte sie schon wieder weniger interessiert.
„Ich will mit der Haushälterin sprechen. Wann kommt sie zurück?“
„Woher wissen Sie, dass sie nicht da ist?“
„Wenn sie im Haus wäre, hätte sie mich eingelassen.“
„Sie erledigt Einkäufe. Ich weiß nicht, wann sie kommt.“
„Warum hat sie hier nicht aufgeräumt?“
„Sie kümmert sich nur um die Küche und das Erdgeschoss. Alles andere erledigte mein Mann.“
„Also, wie heißt Ihr Freund?“
Sie schüttelte den Kopf.
Er zog den Brief aus der Tasche, der ihn zu diesem Besuch veranlasst hatte.
„Gino, genannt der geile Gino?“
Mit einer verblüffend schnellen Bewegung versuchte sie, ihm das Papier aus der Hand zu reißen. Falk trat einen Schritt zur Seite, sie stolperte und musste sich mit beiden Händen an der Wand abfangen. Er las ihr den Text vor.
„Wer hat das geschrieben?“, fauchte sie.
„Das würde ich gerne von Ihnen wissen. Waren Sie mit Gino hier, während es geschah?“
„Und wenn?“
„Wie ist sein voller Name?“
„Lamberti. Gino Lamberti.“
„Was tut er? Wo finde ich ihn?“
„Er ist Koch in einer Pizzeria.“
„In welcher?“
Gino arbeitete im Angelo, wie passend. Falk hatte einige Male dort gegessen.
„Wusste Ihr Gatte, dass Sie sich hier liebten?“
„Ja“, gab sie mürrisch zu.
„Hatte er nichts dagegen einzuwenden?“
„Vor drei Jahren musste er sich die Prostata entfernen lassen. Danach wurde er impotent, obwohl er alles Mögliche versucht hat.“
„Also hat er Ihnen einen Liebhaber zugestanden?“
Sie nickte.
Falk stellte sich vor, wie Dr. Weinstein, für den offenbar wirklich alles einer strikten Ordnung unterworfen sein musste, natürlich auch das Sexualleben seiner Frau, ganz pragmatisch nach einer Lösung des Problems gesucht hatte, nur um keine wild wuchernden, unordentlichen Verhältnisse aufkommen zu lassen.
„Hat er die Männer ausgesucht?“
„Woher wissen Sie, dass es mehrere waren?“
„Reine Vermutung. Hat er sie ausgesucht?“
„Das nicht gerade. Ich durfte schon mitreden.“
Da schwang eine leise Ironie mit, die sie ihm gleich sympathischer erscheinen ließ.
„Und Sie haben mitgemacht. Ergab das nicht eine seltsame Situation?“
„Abgesehen von seinem Ordnungstick war Richard ganz in Ordnung. Großzügig, wir sind oft verreist, haben die besten Lokale besucht, Partys gegeben … Er fühlte sich wohl unter Leuten.“
Und weil er wusste, dass 30-jährige Frauen gerne mit Männern schlafen, arrangierte er das eben auch. Dabei erschien ihm ein einziger ständiger Freund wohl zu riskant. Der setzt sich über kurz oder lang fest, wird zum Zweitmann, stellt Ansprüche …
„Haben Ihre Liebhaber mitbekommen, wie es lief?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Das war auch gut so. Es hat sie angemacht, mit mir beisammen zu sein, während mein Mann unten herum lief. Ahnungslos, wie sie glaubten. Männer …“
Falk fühlte sich irgendwie ertappt.
„Wie erfuhren Sie von dem Unfall?“
„Martha rief mich.“
„Was tat Gino?“
„Ich habe ihn weggeschickt.“
„Waren Sie mit Ihrem Leben zufrieden?“
Sie hob die Hände und ließ sie gleich wieder fallen.
„Zufrieden?“, sagte sie gedehnt, beinahe hilflos. „Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich habe Richard gemocht, aber jetzt – ich vermisse ihn nicht.“
Überrascht lauschte sie den eigenen Worten nach und wiederholte sie wie für sich selbst: „Ich vermisse ihn nicht.“
„Kennen Sie den Schal?“
„Ja, er hat ihn oft getragen.“
„Wo wurde er aufbewahrt?“
„In der Garderobe?“, fragte sie zurück. „Ich weiß es nicht.“
„Hat jemand kurz vor dem Unfall den Keller aufgesucht – ich meine, außer Ihrem Mann?“
Sie hatte keine Ahnung.
„Ist vielleicht etwas angeliefert worden?“
„Ich weiß nicht.“
„Gibt es mehrere Schlüssel zur Außentür?“
Der Blick ihrer dunklen Augen war von überzeugender Ratlosigkeit.
„Wer könnte diesen Brief geschrieben haben?“
Sie dachte kurz nach.
„Ich weiß nicht.“
„Überhaupt keinen Verdacht?“, fragte er.
Philodendrisch langsam bewegte sie den Kopf hin und her.
„Ihr Mann war wohlhabend“, stellte er fest.
„Sehr wohlhabend“, bestätigte sie. „Ich erbe alles.“
Ein winziges Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel und das genügte, um sie aufblühen zu lassen.
Er fragte sich, wie lange es wohl dauern mochte, bis sie begriff, dass ihr sein Besuch und alles was damit zusammen hing, gefährlich werden konnten.
„Haben Sie Feinde in der Nachbarschaft?“
„Wir kennen die Nachbarn kaum. Die Grundstücke sind groß …“
Um die anfallenden Arbeiten kümmerte sich ein Gärtner. Bestimmt verhielt es sich in der Umgebung ähnlich, so dass sich eher die Gärtner kannten als die Bewohner der Häuser.
„Hatte Ihr Mann Feinde?“
„Gewiss nicht.“
„Was machte er beruflich?“
„Bis zur Pension arbeitete er als Wirtschaftsanwalt.“
Ein Spezialist, der vielhundertseitige Verträge für große Unternehmen verfasste, in denen jeder einzelne Punkt, jeder Satz und jedes Wort von Genauigkeit und juristischer Vorsicht bestimmt sind. Diese vorbeugende Konfliktregelung und Konfliktvermeidung war ihm auch privat in Fleisch und Blut übergegangen.
„Haben Sie mit jemandem über Ihre Liebhaber gesprochen?“
„Nicht einmal mit meiner besten Freundin. Es durfte nichts nach außen dringen. Darauf bestand Richard.“
Sie kehrten in das Erdgeschoss zurück und trafen auf eine dicke Frau, die in einer Hand einen großen Korb trug, in der anderen mehrere gut gefüllte Plastiksäcke.
„Der Herr ist von der Kriminalpolizei, Martha“, sagte die junge Witwe. „Er möchte dir ein paar Fragen stellen.“
Martha blickte besorgt drein.
„Kriminalpolizei? Ein Kommissar?“
„Chefinspektor“, murmelte Falk. Warum stimmten die Dienstgrade der österreichischen Polizei bloß nicht mit denen unzähliger Fernsehserien überein?
Martha wusste nicht, wohin mit ihrem Gepäck, und stammelte: „Ja, dann … Gehen wir in die Küche?“
Er nickte und sie ging erleichtert voran. Die Küche war erkennbar ihr Territorium, die Anspannung ließ nach, sie wurde vor seinen Augen ein wenig kleiner und runder, stieß die Tür zu einem Kühlraum auf und entledigte sich rasch des Korbs und der Taschen. Dann zog sie ihren Mantel aus, hängte ihn in einen Kasten und fragte: „Wollen Sie etwas trinken? Kaffee, Tee oder etwas Stärkeres?“
Er hätte gerne ein Bier getrunken und eine Zigarette geraucht, bat aber nur um einen Kaffee und setzte sich, als sie ihm einen Platz an dem massiven Holztisch anbot, der größer war als manche Kochnische in einer Kleinwohnung. Frau Weinstein nutzte die Gelegenheit und zog sich diskret zurück. Genau genommen kam sie die letzten Meter einfach nicht mit. Falk blickte sich um. Die Kücheneinrichtung bildete ein Konglomerat aus altem, matt schimmerndem Holz mit Messingbeschlägen, aus kühlem Edelstahl und getöntem Glas. Über dem Tisch hing eine Lampe mit grünen Zierscheiben und Kordeln, wie man sie nur noch auf alten Fotografien zu sehen bekommt, aber die Arbeitsflächen wurden von verborgenen Lichtleisten hell erleuchtet und kleine Halogenspots an der Decke sorgten dafür, dass sich in keiner dunklen Ecke ein Staubkorn verbergen konnte. Trotzdem war es ein behaglicher Raum, warm und mit einem angenehmen Geruch, wie die Essenz der Erinnerung an Tausende gelungene Gerichte.
Die Haushälterin wirkte aufgeregt wie ein kleines Mädchen vor dem ersten Besuch des Nikolos und Falk vermutete, dass sie – wenn sie ihrer Mutter oder ihren Freundinnen von seinem Besuch erzählte – ihn als Kommissar bezeichnen würde, denn ein Chefinspektor war längst nicht so aufregend. Für den würde ihr Publikum nicht halb so viel geben.
„Sie haben Herrn Weinstein noch unmittelbar vor seinem Tod gesehen?“
„Ja, die Küchentür stand offen, weil ich gerade die schwere Vase herein geschleppt hatte, da ging er vorbei in Richtung Keller. Er trug eine große Schachtel auf den Armen, deshalb hat er nur kurz gegrüßt. Sonst hätte er bestimmt ein paar Worte mit meiner Mutter gewechselt, er plauderte gerne mit ihr. Ein echter Gentleman, immer freundlich und höflich.“
„War er allein?“
„Ja.“
„Wo hielt sich Frau Weinstein auf?“
„Das haben wir Ihren Inspektoren doch alles schon erzählt. Sie befand sich in der Mansarde, in der Dampfkammer.“
„War auch sie allein?“
Martha verstand sich nicht aufs Lügen. Ihre Wangen röteten sich und sie wich aus.
„Mit wem hätte sie denn im Dampfbad sein sollen?“
„Mit Gino Lamberti.“
Sie ließ beinahe die Tasse fallen, die sie eben zum Tisch trug.
„Dazu kann ich Ihnen wirklich nichts sagen.“
„Können Sie nicht oder wollen Sie nicht?“
„Ich kann nicht, Herr Kommissar. Es gibt einen Nebeneingang an der Seite des Hauses, der direkt über eine schmale Wendeltreppe in die Mansarde führt, wo ehemals das Personal wohnte.“
„Das heißt, es könnten noch mehrere Leute im Haus gewesen sein.“
„Was hätte das geändert? Hier befand sich sonst niemand.“
„Es hätte jemand die Haupttreppe herabsteigen und sich in der Kammer oder im Keller verbergen können.“
Sie schüttelte so entschieden den Kopf, dass ihre üppigen Formen in Bewegung gerieten.
„Das ist unmöglich. Wenn der …“ Martha suchte vergeblich nach einem passenden Wort.
„Besuch“, schlug Falk vor.
„Ja. Wenn Besuch kam, sperrte Herr Weinstein den Durchgang ab. Das erschien ihm wichtig. Mir übrigens auch.“
„War die Tür tatsächlich abgesperrt?“
„Ja.“
„Und wenn der Besuch ging und Frau Weinstein herunter wollte?“
„Rief sie entweder an oder lief ums Haus. Es ist ja nicht weit.“
„Wie standen Sie zu dieser Art von Ehe?“
„Es ging mich nichts an. Mir gegenüber benahmen sich beide freundlich und korrekt. Auch Frau Weinstein. Sonst wäre ich nach seinem Unfall bestimmt nicht geblieben.“
„Vielleicht hat es Sie trotzdem gestört.“
Wieder schüttelte sie den Kopf und versetzte ihren Körper erneut in sanfte, wenn auch gegenläufige Schwingungen.
„Ich habe mit 18 ein uneheliches Kind bekommen und später einige Jahre eine Ehe geführt, auf die ich gut hätte verzichten können. Ich bin kein Moralapostel. Und irgendwie habe ich beide verstanden. Ich bin mir nicht sicher, ob er sie geliebt hat, aber er wollte sie jedenfalls nicht verlieren. Und er hätte sie verloren. Sie passten gut zusammen. Doch sie ist eine junge Frau, die das Körperliche braucht. Manche können darauf verzichten, andere nicht. Das hat er verstanden.“
„Das Ehepaar hat das große Haus zu zweit bewohnt?“
„Ich wohne auch hier. Ich habe zwei Zimmer auf der Gartenseite, eigentlich ein kleines Appartement mit allem Drum und Dran.“
„Sie sind bestimmt eine tüchtige Köchin, fühlten Sie sich nicht unterfordert?“
„Ganz bestimmt nicht, das ist ein gastfreundliches Haus – oder vielmehr, war es. Arbeit gab es immer genug. Drei- oder viermal die Woche kamen Freunde zum Essen, oft musste ich für zehn Personen kochen und jedes Mal mehrere Gänge. Zuletzt noch am Abend vor dem Unfall.“
„Da gingen Sie wohl oft in den Keller zu den Vorratsschränken?“
„Überhaupt nie. Der Keller gehörte allein Herrn Weinstein, jedenfalls seit seiner Pensionierung.“
„Wie funktionierte das?“
„Ich sagte, was ich brauchte, und wenn es im Haus vorhanden war, brachte er es mir. Er kümmerte sich auch selbst um die Getränke.“
„Würden Sie sagen, dass er einen Tick hatte?“
„Manche würden es wohl so sehen. Ich dachte mir, ich habe meinen Bereich, in dem ich Ordnung halte, und er hatte seinen. Wir sind uns nie in die Quere gekommen.“
Falk ließ sich noch das Speisezimmer zeigen und die Toiletten, die man von der Halle aus erreichte.
„Für zehn Leute zu kochen ist aufwändig genug. Hatten Sie keine Hilfe beim Auftragen?“
„Wir verwenden einen Servierwagen. Wenn ich genügend Zeit fand, schob ich ihn selbst zum Speisezimmer, dort übernahm Frau Weinstein. Beim Verteilen halfen ihr immer die jüngeren Gäste – es waren Freundesrunden und die Formen sind nicht mehr so streng. Wenn ich zu beschäftigt war, drückte ich meinen Hol-Knopf.“
Sie wies auf einen Schalter neben der Tür.
„Im Speisezimmer leuchtet dann eine grüne Lampe und man holt den Wagen. Deshalb Hol-Knopf.“
Bei der Erinnerung an die vielen geschäftigen Abende wurden ihre Augen feucht. Falk stellte sich vor, dass es oft lebhaft hergegangen sein mochte.
„Bekamen Sie mit, wer  draußen kam und ging?“
Trotz des steigenden Tränenpegels lachte sie auf.
„Was denken Sie denn? Ich hatte alle Hände voll zu tun und wenn nicht gerade serviert wurde, blieb die Tür geschlossen, wegen des Geruchs.“
Also freie Fahrt zur Kellertreppe, schloss Falk. Er ließ sich noch die Namen der Gäste geben, die sich an jenem Abend vor Weinsteins Tod zum Essen versammelt hatten, und ihre und Frau Weinsteins Handynummern. Zum Umgang mit dem Kellerschlüssel konnte sie auch keine Auskunft geben.
„Darum kümmerte sich ausschließlich Herr Weinstein.“
Martha brachte ihn zur Haustür. Als er schon im Freien stand, stellte er noch eine Frage.
„Ihrem Kind geht es gut?“
Sie lächelte ihn an.
„Sehr gut.“
„War es der Vater des Kindes, dem Sie Ihre verzichtbare Ehe verdankten?“
„Nein, der Vater war ein netter Kerl. Mit dem wäre es anders ausgegangen. Nur war er leider schon verheiratet.“
„So was passiert.“
„Ja, weil nämlich in Wirklichkeit niemand darauf verzichten kann.“
Falk steckte sich eine Zigarette an, hob die Hand zum Gruß und ging. Schon nach wenigen Schritten fiel ihm ein, dass er etwas vergessen hatte, aber die automatische Gartentür fiel gerade hinter ihm ins Schloss. Er verwendete das Handy.
„Entschuldigen Sie, ich habe noch eine Frage. Was befand sich eigentlich in dem Karton, den Dr. Weinstein trug?“
„Sportsachen. Schlittschuhe, Knieschützer, ein Helm …“
Er bedankte sich. Da hätte auch ein Schal dazu gepasst. Im LKA hob Inspektor Prüller ab. Falk gab ihm durch, was er über Gino Lamberti erfahren hatte. Durch den dichter aufziehenden Nebel lief er fröstelnd Richtung Innenstadt und kehrte in einem Imbissstand ein, wo er endlich das Bier trank, um das zu bitten er in Marthas Küche nicht gewagt hatte.
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