Fall Nr. 3 der „Kärntner Mordsbullen“

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Klappentext

Chefinspektor Falks Ex-Kollege Lacher stößt bei einem Waldspaziergang in der Nähe Klagenfurts auf eine grausam zugerichtete Frauenleiche. Rasch stellt sich heraus, dass die Tote Jahre zuvor als vermisst gemeldet worden war. Ermordet wurde sie aber nur Stunden vor ihrer Entdeckung.
Wo hielt man sie gefangen?
Warum taucht sie jetzt auf, nachdem längst niemand mehr nach ihr suchte?
Ausgerechnet Lacher hatte den Fall damals bearbeitet. Woher stammen seine Erinnerungslücken?
Diesmal bekommt es Falk mit einem Serienmörder zu tun,  der seine Opfer nicht einfach aus einer perversen Lust heraus entführt, foltert und tötet, sondern damit auch eine rätselhafte Botschaft übermitteln will. Es erleichtert die Aufgabe des Chefinspektors nicht, dass sein Freund scheinbar tief in den Fall verstrickt ist.
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Rezension

Von Chari 

Format: Kindle Edition

Unvorhersehbar, launige Sprache und ausreichend aber nicht zu viel Lokalkolorit, danke für ein paar Stunden Lesespaß. Suche gleich nach mehr.

1___
Falk beobachtete die dicken Regentropfen, die gegen sein Bürofenster klatschten, und bedauerte, dass er sie nicht mehr hören konnte, seit die neue Dreifachverglasung der Republik beim Sparen half. Das kleine Stückchen Himmel, das ihm von Amts wegen zustand, war von einem deprimierenden Grau. Von einem unerschütterlichen Grau, das sich jede Hoffnung auf Besserung verbat. Und die Tropfen klatschten so dicht, dass er sich nicht einmal zum Rauchen aus dem Fenster lehnen konnte, ohne völlig nass zu werden.
Er wandte sich wieder dem Bericht zu, der seine Laune nicht verbesserte. Ein 15-jähriger Schüler hatte einen 42-jährigen Angestellten nach dem Verlassen des Autobusses um Feuer gebeten. Der Angestellte sagte, er habe keines. Daraufhin rammte ihm der Junge die Klinge eines Klappmessers in die Seite. Sein Opfer brach schwer verletzt zusammen. Der Junge flüchtete nicht, obwohl es ihm im morgendlichen Gedränge leicht gefallen wäre. Er war kaum mittelgroß, schmächtig, mit dünnem, blondem Haar und einem blassen Kindergesicht. Unbescholten. Und trotzdem ein Steher, der eisern bei seiner Geschichte blieb. Er kenne den Mann nicht, habe ihn nie zuvor gesehen. Er rauche erst seit zwei oder drei Wochen. Sein Motiv? Er habe sich geärgert.
Die Geschichte machte den Chefinspektor wütend. Er glaubte sie nicht. Er verhörte den Jungen stundenlang. Er ließ ihn von Inspektorin Lerchenfelder verhören, die ein gefährliches Temperament, aber auch ein großes Herz besaß. Er ließ ihn von Heidenwandtner verhören, der groß und massig war, mit einschüchternden, kleinen, schwarzen Augen. Er ließ ihn von der sanften Hanna Schilling verhören, mit der er hin und wieder schlief. Er ließ ihn sogar von Inspektor Prüller verhören, der jede Art von Mitgefühl beim Eintritt in den Polizeidienst abgegeben hatte und stolz darauf war. Der Junge wich keinen Millimeter von seiner Aussage ab.
Falk erfuhr, dass er in der Schule eher als ruhiger Streber galt. Kaum jemand wusste, dass er mit dem Rauchen begonnen hatte, alle waren von der Bluttat völlig überrascht.
Nach einer Woche tauchte schließlich das Mädchen auf und sagte, vielleicht habe er es ihretwegen getan. Ein junges, hartes Mädchen mit einer sehr weiblichen Figur, die sie nicht versteckte. Seit Monaten schmachtete der Junge sie an. Sie empfand nichts für ihn. Sie ermunterte ihn nicht. Sie nahm ihn kaum wahr. Es gab andere, die sie weit mehr interessierten.
An jenem Morgen war ein Bus ausgefallen und das Gedränge noch größer gewesen als sonst. Das spätere Opfer stand dicht an sie gepresst. Alle standen dicht an dicht. Sie habe den Druck seiner Hand gegen ihren Hintern gespürt. Ein ziemlich starker Druck. Aber er tat weiter nichts. Er versuchte nicht, sie zu begrapschen oder ihren Rock höher zu schieben. Es war einfach sehr eng gewesen.
Der Junge mochte das anders gesehen haben. Falk ließ ihn bringen.
Sie sah ihn eine Minute lang an. Dann lachte sie auf und sagte: „Du bist vielleicht ein Idiot!“
Da brach er zusammen. Er hatte tatsächlich geglaubt, der Mann habe sie sexuell belästigt. Und das ertrug er nicht.
Am gleichen Tag starb der Angestellte in der Intensivstation. Der eifersüchtige, liebeskranke Jüngling würde für Jahre ins Gefängnis wandern. Er hatte mit den Zigaretten nur angefangen, weil er dachte, das würde ihr imponieren.
Falk schloss das Protokoll. Zwei Zeitungen lagen seit dem Morgen unberührt auf dem Tisch. Schlagzeilen wie üblich in diesem Frühsommer: Demonstrationen und Tote in Syrien, Tote im Irak, Tote nach Überschwemmungen in China. Er ließ die Zeitungen liegen. Er nahm seinen feuchten Regenmantel vom Haken, drehte das Licht ab und verließ das LKA mit dem dringenden Wunsch nach einer verrauchten Theke voller Biergläser und gesalzener Nüsse und Männer, die so angeheitert waren, dass sie auch über Witze lachten, die sie schon zehnmal erzählt oder gehört hatten.

2___
Kirchen sind düstere Orte für eine Botschaft der Liebe, aber passende Orte für eine düstere Liebe. Der Mann saß in der vordersten Bank des Maria Saaler Doms, sehr aufrecht, regungslos, das Gesicht dem Hochaltar zugewandt, der Gnadenstatue, die 1787 nach der Abtragung des Gnadenaltars hier ihren Platz gefunden hatte. Es war sehr dunkel. Nur zwei Kerzen brannten und wetteiferten mit dem schwachen Schein des Monds. Das Licht reichte gerade aus, um zu erkennen, dass der nächtliche Besucher eine in die Stirn gezogene Baskenmütze trug und seine Lippen sich pausenlos bewegten, ohne dass ein Ton aus seinem Mund drang. Warum nahm er die Mütze nicht ab, wenn er zu dieser späten Stunde betete? Weit und breit fand sich keine neugierige Seele, die ihm diese Frage hätte stellen können.
Plötzlich stand der Mann auf, ging einige Schritte, blieb vor dem Altar stehen und verharrte dort eine Weile. Dann bekreuzigte er sich und verließ lautlos den Dom.
Wenige Hundert Meter entfernt lag der Brunnenwirt direkt an der alten Triester Bundesstraße. Seinen Namen verdankte er einer im 16. Jahrhundert errichteten Pferdetränke, deren gemauerten Trog mehrere Marmorblöcke aus der ehemaligen römischen Provinzhauptstadt Virunum zierten. Einer zeigte einen Frauenkopf im Profil, ein zweiter einen Liegenden, über den sich zwei Frauen beugten, ein dritter eine Inschrift, deren Konturen man nur mehr erahnen konnte.
Mit der Eröffnung der Klagenfurter Schnellstraße in den Achtzigerjahren verlor das Gasthaus schlagartig drei Viertel seiner Kunden. Der große Parkplatz für die Lastzüge der Fernfahrer wich einem Kinderspielplatz, der heruntergekommene Gastgarten unter den alten Kastanien wurde neu gestaltet, Ausflügler und Stammgäste aus der Umgebung ersetzten die Lücke, die das Wegbleiben der Durchreisenden hinterlassen hatte. Es ging friedlicher zu als in früheren Jahrzehnten. Aus den erleuchteten Fenstern strahlte Behaglichkeit, fast jeden Abend wurde viel gelacht und nicht wenig getrunken.
Sonja machte ihre Abrechnung und freute sich über das stattliche Trinkgeld, das sie dem lauen Frühsommerabend verdankte. Die Küche hatte geschlossen, der Wirt saß mit ein paar Gästen am Stammtisch und spielte Karten. Das konnte sich bis in den frühen Morgen hinziehen und nicht selten war die Kasse danach leer.
‚Jeder wie er will‘, dachte Sonja. Sie hörte um elf auf und freute sich auf ihre Familie und das Bett. Mit einem fröhlichen Abschiedsgruß verließ sie das Lokal. Die Männer erwiderten den Gruß. Sie war ein nettes Mädchen, die Kellnerin: hübsch, lebenslustig, immer freundlich. Früher einer kleinen Liebelei nicht abgeneigt. Doch seit ihrer Hochzeit und der Geburt des ersten Sohnes ließ sie sich nicht einmal mehr auf einen harmlosen Flirt ein.
„Warum richtet sie das nicht?“, fragte einer der Kartenspieler den Wirt und deutete dabei mit der Hand auf seinen Kopf. Beide wussten, dass er ihr linkes Ohr meinte, dass an der Spitze ein wenig verwachsen und mit der Kopfhaut verbunden war. Es fiel kaum auf, man sah es nur, wenn Sonja ihr schulterlanges blondes Haar aus dem Gesicht strich.
„Es stört sie nicht“, erwiderte der Wirt. „Ihren Mann auch nicht. Ich erhöhe um fünf.“
Sonja schloss ihr Rad auf und fuhr los. Von ihrem Zuhause trennten sie nur zwei Kilometer auf einer kaum befahrenen Seitenstraße. Aus dem nahen Wald tönte der Ruf eines Käuzchens, ein vielstimmiger Froschchor zeigte die Höhe des alten Teichs an, Dutzende Glühwürmchen suchten leuchtend ihr Glück. Zuerst freute sie sich daran, doch nach der halben Strecke merkte sie, dass der Vorderreifen platt war. Sie schimpfte leise, stieg ab und begann das Rad zu schieben. So würde es eben ein paar Minuten länger dauern. Von hinten näherten sich Motorgeräusch und Scheinwerferlicht eines Autos, Sonja trat zur Seite. Die größte Gefahr auf nächtlichen Landstraßen besteht darin, von einem Betrunkenen überfahren zu werden. Das dachte sie damals. Das Auto hielt neben ihr. Eine Männerstimme sagte durchs offene Fenster: „Guten Abend, Sonja. Hast du eine Panne?“
„Ach Sie sind’s“, lachte sie. „Ja, einen Platten vorne.“
„Das tut mir leid. Kann ich dir helfen?“
„Nein danke, es ist ja nicht weit.“
„Dann komm gut nach Hause. Auf ein baldiges Wiedersehen.“
„Gute Nacht.“
Der Kombi rollte an, nur um nach ein paar Metern erneut stehen zu bleiben. Der Fahrer stieg aus und ging ihr entgegen.
„Ich habe etwas für dich, das hätte ich beinahe vergessen.“
„Was denn?“, fragte Sonja.
„Das Buch, das ich dir versprochen habe. Weißt du nicht mehr?“
Er öffnete die Heckklappe. Sie lachte wieder. Hell und fröhlich, wie es ihrem Wesen entsprach.
„Das ist doch schon Wochen her. Dass Sie daran noch denken.“
„Ich habe es damals gleich in den Wagen gelegt, irgendwo muss es liegen. Leuchtest du mir bitte?“
Sie lehnte ihr Rad an einen Baum gleich neben der Straße, nahm die Taschenlampe und leuchtete in den großen Gepäckraum. Außer einer Plane gab es da nichts zu sehen. Sonja wollte den Mann gerade fragen, ob er sich nicht täusche. In dem Moment fühlte sie einen Stich in die Schulter, dann einen Stoß in den Rücken. Sie fiel mit dem Gesicht nach vorne auf die Plane, den Aufprall spürte sie schon nicht mehr. Der Mann mit der Baskenmütze schob rasch ihren Unterkörper nach, deckte die Bewusstlose zu und schloss die Klappe. Er griff nach der Lampe und suchte sorgfältig den Boden ab. Man verlor allzu oft eine Kleinigkeit am falschen Ort. Er fand nichts, stieg ein und beschleunigte. Noch vor der Siedlung, in der Sonja mit ihrer jungen Familie lebte, bog er ab und verschwand in dem Gewirr aus schmalen Straßen und Wegen, die das Land überzogen wie ein achtlos darüber geworfenes Netz für gargantueske Fische. Er kannte sich gut aus. Nach einer Weile erreichte er sein Ziel und hielt vor der Zufahrt zu einem alten, großen Haus. Ein Tor öffnete sich, er durchquerte mit dem Auto langsam den dunklen Hof, gelangte auf den unteren Teil des Grundstücks, wendete und fuhr in eine Garage. Das Garagentor klappte herab und konnte  ohne Fernbedienung von außen nicht geöffnet werden. An der Kette, die der Fahrer um den Hals trug, baumelte ein Medaillon. Er ließ es aufspringen und berührte mit einem Stift das rechte Auge eines winzigen Frauenbildnisses. Ein Teil der hinteren Garagenwand versank gemächlich im Boden, begleitet von einem leisen, dumpfen Grollen wie ferner Donner. Der Mann trat durch die Öffnung in ein Gewölbe, in dem allerlei Gerätschaften standen. Er wählte einen Transportwagen, den er hinter dem Kombi abstellte und zog die reglose Sonja samt der Plane nach hinten, bis sie über die Kofferraumkante in den Wagen plumpste. Er schob ihn in das Gewölbe und durch den anschließenden Gang zu einer offenstehenden Tür, die in eine kleine Zelle führte. Dort ließ er Sonja auf den Boden rollen und wickelte sie aus der Plane. Sie war sehr blass und atmete schwer, doch ihr Puls schlug regelmäßig. Mit einiger Mühe zog er sie aus. Nackt legte er sie auf eine breite, gepolsterte Holzbank, das einzige Möbelstück in der Zelle. Sein Gesicht färbte sich rötlich, als er nicht widerstehen konnte und den straffen Körper betastete, das sündhafte Fleisch berührte – doch er rief sich selbst zur Ordnung, sie sollte ihn nicht in Versuchung führen. Er schloss Eisenmanschetten um ihre Fuß- und Handgelenke und zog die Ketten fest an, zur Strafe, weil sie ihn doch versucht hatte. Außerdem würde es Schmerzen verursachen und ihre Angst steigern, noch weiter steigern. Das erleichterte seine Aufgabe. Kleider und Plane warf er in den Transportwagen und schob ihn hinaus, die Tür schloss er ab. Es half, wenn sie in völliger Dunkelheit erwachten. Beim Hinausgehen horchte er an der vergitterten Luke einer anderen Zelle. Sie schreckten immer auf, wenn sie das Grollen der beweglichen Wand vernahmen. Und tatsächlich drang ein verhaltenes, kaum wahrnehmbares Wimmern an sein Ohr. Er bürdete sich wirklich zu viel Arbeit auf. Wer würde es ihm danken?
Später, im großen Wohnzimmer, riss er den Datumszettel des vergangenen Tages vom Kalender: 27. Juni 1999.

3___
Jahre verstrichen. Ein Wagen tastete sich mit Standlicht eine Forststraße entlang, die durch den heftigen Regen mehr einem Bach glich als einem Weg. In den steilen Passagen schien der Puch G einen Wasserfall hinaufzuklettern. Einer der neumodischen SUVs hätte längst das Handtuch geworfen, doch mit Untersetzung und drei Differentialsperren pflügten die grobstolligen Reifen des Puchs unwiderstehlich ihre Bahn durch Wasser, Schlamm und tiefe Rinnen. Der Fahrer musste mit den Augen einer Katze und dem Orientierungsvermögen einer Fledermaus gesegnet sein, sonst wäre er bei der Minimalbeleuchtung längst einen der Abhänge hinabgestürzt. Tatsächlich benutzte er ein Nachtsichtgerät mit 50.000-facher Restlichtverstärkung. Auf einer Anhöhe hielt der Wagen an. Nach dem Verstummen des Motors übertönte das Prasseln des Regens die leisen Worte der Männer, die ihm entstiegen. Zwei Stirnlampen leuchteten auf. Die unruhigen Lichtkegel rissen Ausschnitte aus der Finsternis, nur um sie mit jeder Kopfbewegung wieder ins Schwarz zurückzustoßen. Die Männer trugen dunkle Kleidung, die sie von Kopf bis Fuß umhüllte wie eine zweite Haut. Sie glichen Tauchern vor dem Sprung in die See. Der Fahrer mit dem Nachtsichtgerät hielt ein kurzläufiges Gewehr im Arm. Einer öffnete die Heckklappe, holte eine Axt heraus und reichte sie weiter, er selbst griff nach einem kleinen Koffer und einer Tragtasche. Zu zweit entfernten sie sich etwa fünfzig Meter vom Weg, bis sie ihr Ziel erreichten. Der Regen schluckte fast alle Geräusche. Der Klang der Axthiebe drang nur schwach bis zum Wagen, neben dem der Bewaffnete Wache hielt. Nach einer halben Stunde kehrten die beiden zurück. Sie verstauten ihr Werkzeug, hoben einen gelben Plastiksack aus dem Kofferraum und verschwanden erneut im Wald. Neben einer jungen Fichte, deren Äste sie abgeschlagen hatten, legten sie den Sack auf den triefend nassen Boden. Sie banden den Draht auf, mit dem er verschlossen war und zogen die Leiche einer Frau hervor. Einer hob sie hoch und lehnte sie an den Stamm, der andere band sie mit einer dicken Leine daran fest. Er arbeitete sehr sorgfältig, ohne Hast. Anschließend sammelten sie Sack und Draht ein. Dann stellten sie sich nebeneinander vor die Tote und senkten die Köpfe. Nach dieser seltsamsten Verabschiedung, die der Wald jemals erlebt haben mochte, gingen sie zu ihrem Fahrzeug zurück und verschwanden, wie sie gekommen waren. Der Regen schwemmte die Reifenspuren gründlich weg. Nur die Leiche blieb zurück. Die Stunden vergingen und immer mehr Wasser fiel vom Himmel.
Dieser Regen hielt bereits seit Tagen an. Manchmal schüttete es, manchmal nieselte es, die Meteorologen freuten sich. Keine Fehlprognose zu befürchten. Das Satellitenbild zeigte eine gewaltige Wolkenmasse, die sich über ganz Mitteleuropa träge im Kreis schob.
Schmale Bäche rannen auf den Straßen, ein stetes Rieseln und Plätschern drang von Dächern und Traufen. Tief hängende Nebelschwaden verbargen die Wolken und sorgten für ein weißlich-graues Licht, das alle Konturen weichzeichnete und kraftlos machte wie die Träume alter Männer. Noch stärker wurde dieser Eindruck in den Wäldern, die nach Westen und Osten über Hügel und Gräben anstiegen. Unter den hohen Fichten und Föhren war die Sicht so stark eingeschränkt, dass ein Wanderer leicht glauben konnte, er habe sich in einer Tropfsteinhöhle aus dunklen Stämmen, Ästen und Unterholz verlaufen.
Hier, wo man an einem solchen Tag keinen Menschen erwartete, schritt ein Mann dahin, teils auf Wegen, teils quer durch den Wald. Kein einziges Mal blieb er stehen, um sich in der Tropfsteinhöhle zu orientieren. Er bewegte sich wie eine Maschine, Arme und Beine schwangen im gleichmäßigen Takt, das Wasser perlte an seinem dunklen Gummimantel ab, dessen Kapuze er über den Kopf bis weit ins Gesicht gezogen hatte. Seine vorgebeugte Gestalt und die düstere Bekleidung mochten bei anderen Naturfreunden ein mulmiges Gefühl auslösen – allein, es gab keine anderen. Niemand sonst kam auf die Idee, bei diesem Wetter durch die Landschaft zu laufen. Der Mann, Chefinspektor Lacher außer Dienst, begriff dies nicht als Nachteil und rechnete auch nicht damit, auf Menschen zu treffen. Als er die Frau sah, erstarrte er zu einer Statue. Er vermochte später selbst nicht genau zu sagen, für wie lange.
Die Nässe hatte ihr schütteres, graues Haar wie einen dünnen Helm an den schmalen Kopf geklebt. Ein grässlich deformierter Kopf, übersät mit Quetschungen und Rissen. An Stelle der Augen saßen schwarze, leere Höhlen im hageren, verschobenen Gesicht, einen dritten Abgrund bildete der aufgerissene Mund. Dünne, blutleere Lippen spannten sich über zertrümmerte Zahnreihen. Es sah aus, als ob sie schrie. Als ob sie immer noch schrie. Die Tote stand aufrecht an den frisch entasteten Stamm einer jungen Fichte gebunden. Mit einer blauweißen Schnur, vermutlich einer Wäscheleine, die sich wie eine Spirale von den Fußknöcheln bis zum Hals und dann noch einmal um ihre Stirn schlang. Sie trug nichts als ein fadenscheiniges, fleckiges Hemd, das sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegte und die Wunden, die man ihr überall zugefügt hatte, mehr betonte als verhüllte. Die abgeschlagenen Äste lagen zu einem Haufen geschlichtet neben ihren Füßen, die nackt und weiß auf dem dunklen Boden leuchteten. Vier Zehen, zwei an jedem Fuß, fehlten. Weitere Holzreste, Rindenstücke und morsche Stümpfe stapelten sich hinter der Leiche.
Lacher trat näher an die tote Frau heran und betrachtete sie eingehend. Neben den frischen Verletzungen wies sie eine Vielzahl alter Narben auf. Ihr linker Mittelfinger war verkürzt. Zuerst dachte er, man hätte das vorderste Glied entfernt, doch der Nagel war vorhanden. Es handelte sich um eine angeborene Missbildung. Eine Erinnerung stieg in ihm auf, die Erinnerung an ein verblasstes Foto, das einst auf seinem Schreibtisch gelegen hatte und dann an eine Pinnwand geheftet worden war. Ihm wurde schlagartig heiß, doch zugleich lief ein kalter Schauder über seinen Rücken und er blickte um sich, musterte aufmerksam die kleine Lichtung, die an einen Forstweg grenzte, und spähte zwischen die Bäume. Er entfernte sich einige Meter in die Richtung, aus der er gekommen war und setzte sich auf einen Baumstumpf. Brachydaktylie! Seit Jahren hatte er das Wort weder gelesen noch verwendet. Das Fehlen eines Fingerglieds, in dieser Form sehr selten. Ein besonderes Kennzeichen. Er ließ die Tote nicht aus den Augen, Stück für Stück erinnerte er sich an jede Einzelheit, die er vor Jahren über sie in Erfahrung gebracht hatte. Wenn sie es war. Er erinnerte sich an die Einkaufstasche im Straßengraben, an den milden Herbsttag, an die Verzweiflung ihres Gatten, an das Weinen der kleinen Tochter. Ihm fiel der Name der Frau ein: Ines Koller. Viele Menschen verschwinden, viele kehren wieder zurück. Im Fall der jungen Mutter Koller hatte niemand ernsthaft daran geglaubt, dass sie freiwillig ihr Kind verlassen habe. Es fand sich aber kein Hinweis auf ein Verbrechen. Hundertschaften von Beamten waren durch die Wälder gezogen, Suchhunde und Hubschrauber eingesetzt, Dutzende Personen befragt worden: Freunde, Nachbarn, Bekannte, Arbeitskollegen, ehemalige Mitschüler und Lehrer, zuletzt beinahe jeder, der im Tal wohnte. Es gab vage Verdachtsmomente, die sich wieder auflösten, vage Spuren, die im Nichts endeten – und eine einzige Gewissheit: Ines Koller, die junge Apothekenhelferin, blieb wie vom Erdboden verschlungen. Sie war nicht die einzige gewesen in all den Jahren seiner Polizeiarbeit. Andere Fotografien erschienen in seiner Erinnerung, andere Bilder verzweifelter Angehöriger und vergeblicher Suchaktionen.
Nun, so lange danach, tauchte die Koller wieder auf. Nicht etwa in einem versteckten Waldgrab, das sie damals übersehen hätten, sondern als Opfer eines grausamen Mordes, der vor wenigen Tagen, vielleicht nur Stunden, begangen worden war. Zudem tauchte sie nicht irgendwo auf, sondern genau auf dem einsamen Spazierweg des damaligen Hauptermittlers. Lacher ertappte sich bei dem Wunsch, dass es eine andere Frau sein möge, doch er glaubte nicht daran.
Plötzlich vernahm er das Geräusch und es traf ihn bis ins Mark. Leise durchdrang es das gleichförmige Tröpfeln und Rieseln des Regens, ein knappes Knirschen, Splittern, Brechen und Krachen. Ganz kurz, dann von Neuem, drei-, vier-, fünfmal, immer nur für zwei, drei Sekunden, jedes einzelne Ereignis vom folgenden klar abgegrenzt. Er sprang auf und versuchte die Richtung zu bestimmen, aus der das Krachen kam. Dabei drehte er sich im Kreis wie ein einsamer Tänzer, der den Takt verloren hat. Doch das Knacken und Knirschen wiederholte sich nicht. Minutenlang noch drehte sich Lacher, schweißüberströmt, endlich sank er zurück auf den Baumstumpf, die Tote vor Augen. Er musste geträumt haben – oder halluziniert. Wer sollte in diesem Wald, bei diesem Wetter, auch Nüsse knacken? Ein leichter Schwindel erfasste ihn, er griff sich an die Schläfen. Eine warme Welle glitt durch sein Bewusstsein, die Erinnerung an die letzten Minuten verblasste und wurde zu einem weißen Fleck in seinem Gedächtnis. Er hob den Kopf. Wie als fernes Echo auf die erste, von der Welle fortgespülte Frage, stieg eine zweite in ihm hoch: Wer bindet in diesem Wald, bei diesem Wetter, eine zu Tode gequälte Frau an einen Baum?
Lacher erschauerte erneut. Ohne einen Grund nennen zu können, ahnte er, dass sich diese Geschichte für ihn zu einer höchstpersönlichen Angelegenheit entwickeln würde. Er tastete nach seinem Handy.
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