Fall Nr. 5 der „Kärntner Mordsbullen“

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Klappentext

In den Gurktaler Alpen baumelt eine blutverschmierte Schaufensterpuppe von der Leiter eines Hochstands. Eine Drohung? Ein geschmackloser Scherz? Keine Aufgabe jedenfalls für den Klagenfurter Chefinspektor Fuchs, Spezialist für Gewaltverbrechen. Nur ist der Eigentümer des Hochstands samt riesiger Eigenjagd rundum, ein Freund von Fuchs‘ Vorgesetztem – und der schwer verkaterte Chefinspektor froh, aus der heißen Stadt in die frische Bergluft zu entkommen.
Das Blut ist lediglich Kunstblut, doch die Puppe beunruhigt ihn. Umso mehr, als der Puppenspieler keinerlei verwertbare Spuren hinterlassen hat. Und so gut die Luft dort oben auch sein mag, es liegt einige Spannung darin. Spannung entlädt sich – und Gewitter in den Bergen sind eine tödliche Gefahr.
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Leseprobe

Prolog

Die Sonne stand eine Handbreit über dem dunklen Grat im Osten, der den blassblauen Himmel abschnitt wie ein schartiges Messer. Sie tauchte Gipfel, Almen und Wälder in ein klares, überirdisches Licht. Es malte die Welt unschuldig und rein und brachte die Tautröpfchen auf den Goldmohnblüten vor dem Hubertushof zum Funkeln. Der Hof, eigentlich eine Jagdvilla, lag in den Gurktaler Alpen, etwa eine halbe Fahrstunde von der Ortschaft Flattnitz entfernt. Die Villa schmiegte sich in eine kleine Mulde am Rand einer sanft abfallenden Wiese, hinten Wald, vorne ein großartiger Ausblick über Kärnten. Ihre Existenz verdankte sie dem Umstand, dass vor einigen Jahren hier noch die Reste einer echten Jagdhütte aus grob behauenen Stämmen und einem Bretterdach gestanden hatten. Diese Ruine hatte es der zuständigen Behörde ermöglicht, eine Baugenehmigung zur Renovierung zu erteilen. Nach den umfangreichen Arbeiten hätte die ehemalige Hütte sich selbst nicht wiedererkannt im Spiegelbild des angrenzenden Fischteichs. Sie war in alle Richtungen erheblich gewachsen und hatte Junge bekommen: eine Garage und eine Sauna aus Zirbenholz, die wie ein Pfahlbau in den Teich ragte. Ihr neuer Besitzer, ein Industrieller aus Rosenheim namens Bauernfeind, hatte sie auf den Namen Hubertushof getauft. Damit das niemand übersah, stand eine entsprechende Tafel aus massivem Stahl, siebzig Zentimeter hoch, eineinhalb Meter breit, neben der Zufahrt. Flankiert von etlichen kleineren Tafeln, die darauf hinwiesen, dass es sich um ein Privatgrundstück handle und das Betreten desselben streng verboten sei.
Dies galt natürlich nicht für den Briefträger. Hans Pirker, neunundzwanzig, weit und breit bekannt als Post-Hanse, lenkte seinen gelben Renault Kangoo schon kurz vor acht auf den Parkplatz der Villa. Er kam gern hier herauf. Zum einen bekam er ein wöchentliches Trinkgeld von fünfzig Euro, im Winter manchmal auch hundert, zum anderen hielt die Unternehmergattin viel von Pirkers jugendlicher Manneskraft. Sie war die zweite Frau des Chefs, das übliche zwanzig bis dreißig Jahre jüngere Austauschmodell erfolgreicher Aufsteiger. Wenn Josef Bauernfeind sich um seine Firma kümmerte, die zweihundert Kilometer Luftlinie nordwestlich des Hubertushofes lag, schätzte sie den notgedrungen kurzen, aber intensiven Austausch mit dem Postler. Das hatte nichts mit den Postmann-Schmuddelfilmen der Sechziger zu tun. Die waren vor ihrer beider Geburt gedreht worden. Es handelte sich um eine Spielart des Casual Sex der Zweitausendzehnerjahre. Freundlich, praktisch, unverbindlich. Doch das sind nur Worte. Der Post-Hanse glaubte nicht, dass der Chef etwas ahnte. Es interessierte ihn aber auch nicht besonders. Pirker war durchaus bereit, ein Risiko einzugehen, wenn es sich lohnte. Er war ein geborener Spieler, wie er selbst meinte. Einer, der im Spiel des Lebens einen Haupttreffer erzielen wollte. Einem Briefträger im Gurktal boten sich dazu nicht allzu viele Chancen.
Ein Blick in die offen stehende Garage, in der neben Marie Bauernfeinds bescheidenem 85.000-Euro-Jeep das Alpenflaggschiff des Deutschen, ein goldfarbener Range Rover SVAutobiography thronte, beantwortete ihm die unausgesprochene Frage nach dem Wesen seines heutigen Besuchs. Er packte das Brief- und Zeitschriftenbündel und läutete an der Eingangstür. Der Chef mochte diese kleine persönliche Aufmerksamkeit, obwohl natürlich auch ein kupferner Designbriefkasten im Gegenwert eines Kleinwagens vorhanden war. Josef Bauernfeind öffnete sofort, lächelte dem schlaksigen Pirker zu und fragte wie immer: „Ein Kaffee, Hans?“
Wie immer erwiderte der Post-Hanse: „Nein danke Chef, geht sich nicht aus. Wird alles dauernd stressiger.“
„Schade“, sagte der Chef.
Der Briefträger übergab ihm das Bündel, kehrte zum Renault zurück und fuhr laut pfeifend ins Tal. Beim Pfeifen ließ es sich besser nachdenken und zum Nachdenken gab es genug – zum Beispiel, was diese Ansichtskarte aus Rosenheim zu bedeuten hatte.
„Nie Zeit für einen Kaffee“, murmelte Bauernfeind kopfschüttelnd. Er legte die Post auf den Tisch der Wohnküche, die alles an Geräten enthielt, was nötig gewesen wäre, um ein mittleres Restaurant zu betreiben. Verwendet hatten sie heute nur den Backofen für die Brötchen, den Herd für Spiegeleier mit Speck und Zwiebeln sowie die Espressomaschine mit ihrer Kapazität von hundertachtzig Tassen pro Stunde.
Marie Bauernfeind saß im Bademantel am Tisch und belegte die vierte Weißbrotscheibe mit Schinken, Käse und Gewürzgurken. Sie liebte ausgiebige Mahlzeiten vom Frühstück bis zum Mitternachtsimbiss, doch man sah es ihr nicht an. Es gibt solche Glückspilze. Sie zählen zu den meistgehassten Menschen der Welt, was verständlich ist. Wie sollte jemand sie nicht hassen, der schon von trockenem Vollkornbrot und Blattsalat an Masochistenmarinade zunimmt? Marie trug ihre blonden Locken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die weit auseinanderstehenden Augen waren blaugrau, Stirn und Nase gerade, die Lippen mit einem sinnlichen Schwung versehen, das Kinn kräftig. Kein liebliches Gesicht, doch gewiss apart. Sie verwendete viel Zeit auf die Pflege und die nahtlose Bräune ihres Körpers. Kauend griff sie nach den Briefen und Karten, während Josef die lokale Ausgabe der Kleinen Zeitung durchblätterte. Was Journalisten über Politik schrieben, interessierte ihn schon lange nicht mehr. An Politik interessierten ihn lediglich ihre Ergebnisse, die sich in vergleichbaren Zahlen ausdrücken ließen. Aber den Lokalteil mochte er. Er neigte sein großes Gesicht darüber, das trotz vieler Falten und des kurzen grauen Bartes nicht alt wirkte. Bevor er nach Rosenheim brauste, würde er sich rasieren. Doch hier auf Hubertus, wie er sagte, störte ihn nur, was die Jagd störte. Der Bart zählte so wenig dazu wie der Briefträger. Ein ärgerliches Schnauben seiner Frau veranlasste ihn, ebenso wie Ralf, den Deutsch-Drahthaar-Rüden, den Kopf mit einem scharfen Ruck zu heben.
„Das gibt’s nicht!“, stieß sie hervor.
Sie starrte feindselig auf die Ansichtskarte in ihrer Hand.
„Der freche, kleine Drecksack!“
Josef Bauernfeind erkannte das Motiv auf der Bildseite der Karte, eine Ansicht von Rosenheim. Ralf legte den Kopf wieder auf seine Pfoten.
„Er?“
„Ja“, sagte Marie.
„Was schreibt er?“
„Nur einen Satz: ‚Wir beide wissen es‘.“
„Keine Unterschrift?“
„M. L. Seine Initialen.“
Nachdenklich betrachtete Bauernfeind seine Frau. „Trotz der acht Jahre beharrt er also darauf.“
Sie nahm einen Schluck Kaffee. „Du hast mich nie gefragt.“
„Ich werde dich auch nie fragen.“
„Kümmert es dich nicht?“, wollte sie wissen.
„Er hat den Preis bezahlt und jeden einzelnen Tag verdient. Das kümmert mich.“
Das Lächeln stand ihr ausgezeichnet. „Du bist in Ordnung, Josef. Wann gehen wir heute los?“
„Herrmann holt uns um vier.“
Sie erhob sich. Glatte Haut blitzte auf, bis sie den Bademantel enger gerafft und den Gürtel neu gebunden hatte. „Kommst du mit in den Whirlpool?“
Er zögerte ein bisschen, um sie zu necken. Als die Andeutung einer senkrechten Falte ober ihrer Nasenwurzel erschien, grinste er und sagte: „Ich schätze, den Lokalteil liest mir niemand weg.“
Der kleine Kläffer ist entlassen worden, dachte er auf dem Weg zum Pool, und wird sofort wieder lästig.

1___

Einige Tage nach dem Erhalt der Karte, die zu dem seltsamen Frühstücksdialog des Ehepaars geführt hatte, waren Josef und Marie Bauernfeind bereits vor Tagesanbruch mit ihrem Hund unterwegs. Ihr Ziel: Stand sieben des Reviers. Beide mit umgehängten Gewehren und im Bewusstsein, dass nichts anderes sie so stark verband wie die Jagd. Eine elementare Beziehung, neben der weder ein Post-Hanse noch Josefs regelmäßig wechselnde Sekretärinnen besonders ins Gewicht fielen. Nicht zu dieser kühlen, dunklen Morgenstunde, die mächtigere Sinne und Ahnungen weckte; genetische Überbleibsel aus grauen Vorzeiten, in denen Jagd und Überleben unmittelbar zusammenhingen. Wobei der letzte Sekretärinnenwechsel schon ziemlich lange zurücklag und die jetzige elf Jahre jünger war als Marie …
Mit einem Mal erstarrte Ralf – die Beine durchgestreckt, der Körper gerade wie ein Pfeil – nur die schwarze Nase zuckte. Sie mochten hundert Meter vom Hochstand entfernt sein, das Tageslicht reichte noch nicht aus, um ihn in dem dunklen Streifen zu erkennen, der den Waldrand von der helleren Almwiese abhob. Marie beobachtete den Hund und nahm ihre Kipplaufbüchse von der Schulter.
„Viel zu dunkel“, flüsterte ihr Mann.
„Ich weiß“, hauchte sie zurück und ging, die Waffe im Arm, lautlos weiter.
Bauernfeind kehrte bei Bedarf gerne den polternden Unternehmertyp hervor, aber er war in mancher Hinsicht ein kluger Mann. Den Instinkt seiner Frau schätzte er zum Beispiel sehr. Auch er nahm den Bergstutzen von der Schulter. Ralf löste sich aus seiner Erstarrung und hielt sich eng neben Marie.
Wie eine dunkle Strichzeichnung vor einem noch dunkleren Hintergrund schälten sich die Konturen des Hochsitzes aus dem düsteren, graugrün schattierten Bild. Ralf lief einige Schritte voran und erstarrte wieder. Ein leises Grollen drang jetzt aus seiner Brust. Auch Josef und Marie blieben stehen. Der Stand war vier Meter hoch. Auf halber Höhe der Leiter hing etwas herab – es sah aus wie ein menschlicher Körper. Ein Körper mit gefesselten Füßen, an einem Strick über eine Leitersprosse hochgezogen, die Arme herabhängend.
„Oh Gott!“
Sie stießen es gleichzeitig hervor, fern jedes Glaubens.
Aber war es wirklich ein Mensch? Die Haltung der Arme … Sie hingen nicht kraftlos, der Schwerkraft folgend, nach unten, sie wirkten angewinkelt, als ob der Hängende im nächsten Augenblick Liegestütze beginnen wollte, die Oberarme vom Körper leicht weggespreizt, die Unterarme parallel dazu. Bauernfeind holte eine Taschenlampe aus seiner Jacke. Der Lichtkegel milderte ihr ursprüngliches Entsetzen. Hier hing kein Mensch, nur eine Puppe, eine nackte Schaufensterpuppe. Doch als sie nähertraten, kehrte das Grauen zurück. Die Vorderseite der offensichtlich weiblichen Puppe war blutüberströmt, auf dem Kunststoff erkannten sie dicke schwarze Linien, die von ihrem Schritt bis zum Hals reichten.
„Verdammte Schweinerei!“
„Sie haben sie aufgebrochen!“, rief Marie. Mit ihrer eigenen Lampe strich sie über den leeren Hochstand, über die Wiese, durch den Wald, die Stämme entlang … Da standen nur stumme Föhren und Lärchen. Keine freundlichen Bäume wie an sonnigen Tagen, sondern hart, finster und abweisend im weißen Licht der LEDs. Ihr Mann stammelte bayrische Flüche, während er das vermeintliche Opfer aus der Nähe betrachtete, Ralf schenkte dem Blut, das auf den Boden geflossen war, keine Aufmerksamkeit.
„Das war er!“, schrie Marie in plötzlich aufwallender Wut. „Der dreckige Hund!“
Gleich darauf strich sie Ralf entschuldigend über den struppigen Kopf. Bauernfeind starrte sie ungläubig an, dann zog er sein Handy aus der Tasche und rief die Polizei.

Der Wecker benötigte fast eine Minute, um Chefinspektor Fuchs aus dem Schlaf zu holen. Als Verstärker wirkte Samanthas Knie, das sich in seine rechte Niere bohrte. „Abstellen!“, fauchte sie unter der Decke hervor. „Sofort!“
Beim dritten Versuch traf Fuchs die Stopptaste. Er blinzelte, las die digitale Acht, die durch die leere Magnumflasche davor wie eine missglückte Zellteilung aussah, und fuhr hoch. Nackt lief er ins Badezimmer und stieß leise Verwünschungen aus. Sie galten dem Wecker, aber auch ihm selbst, der ihn falsch gestellt hatte. Er duschte und rasierte sich, und was ihm aus dem Spiegel entgegenblickte, gefiel ihm nicht. Als er ins Schlafzimmer zurückkehrte, lag Samantha auf dem Bauch, entblößt mit Ausnahme des rechten Beins, das sie unter die Decke geschoben hatte, und der Schultern, die von ihrer üppigen, honigblonden Lockenpracht bedeckt wurden. Seit ihrem gemeinsamen Erlebnis – eigentlich Überlebnis, dachte er, denn es war verdammt knapp geworden im Wiener Untergrund – hatte sich ihr Verhältnis geändert. Sie schätzten einander mehr. Er hatte ihren Mut bewundert und sie seine Gelassenheit, oder vielleicht die Schauspielkunst, mit der er sie gemimt hatte. Die anfängliche Stop-and-go-Beziehung war stabiler geworden, obwohl es gelegentlich immer noch funkte und krachte. Die Münchner Möbeldesignerin verfügte über eine Menge Temperament und Fuchs’ geringe Geduld verbrauchte er restlos im Beruf. Meist kam er damit nicht bis zum Monatsende aus. Er schlüpfte in helle Jeans, ein kurzärmeliges Hemd und ein lichtbraunes Sakko, warf einen neiderfüllten Blick auf die schlafende Sam und verließ das Appartement.
Ein strahlender Julitag erwartete ihn. Im Handschuhfach fand Fuchs eine dunkle Sonnenbrille, die er auch nicht abnahm, als er das Präsidium betrat. Niemand warnte ihn, deshalb verschwand er auf dem kürzesten Weg in sein Büro. Dort saß bereits Oberst Prettner. Der Chefinspektor war mit zu viel Schwung eingetreten, ein Rückzug kam nicht mehr infrage, also blieb er einfach stehen.
„Guten Morgen“, sagte Prettner mit einem bedeutungsschweren Blick zur Wanduhr. Es sollte sarkastisch klingen, doch dafür fehlte ihm das Talent. Fuchs murmelte eine Antwort und wartete ab. Der Leiter des LKA war aber nicht auf Konfrontation aus. Er räumte Fuchs’ Drehstuhl, stellte sich ans Fenster und blinzelte ins sommerliche Blau. „Kaiserwetter!“, schwärmte er inbrünstig. „Und erst in den Bergen – was für ein Tag!“
Also wollte er etwas, dachte Fuchs, und schwieg weiter. Mit viel Schwung wirbelte der Oberst herum, machte zwei raumgreifende Schritte und ließ sich in einen der freien Sessel fallen.
„Ich habe einen Anruf erhalten.“
Für einen Mann, der gefühlte neunzig Prozent seiner Zeit ein Handy gegen das Ohr presste, war das eine bemerkenswert banale Ansage. Fuchs würdigte sie keiner Antwort.
„Ein Freund, ein durchaus bedeutender Industrieller, wie ich erwähnen darf, hat mir eine seltsame Geschichte erzählt.“
Und ohne Punkt und Komma berichtete er von der blutigen Puppe, die irgendwo in den Gurktaler Alpen kopfüber von einem Hochsitz hing.
„Ein Kollege aus Weitensfeld hat sich die Sache angeschaut“, beendete Prettner seine Rede, „doch Josef Bauernfeind bat mich, noch jemanden zu schicken, der … na ja, der halt mehr Erfahrung in Kriminalfällen mitbringt als ein Weitensfelder Inspektor.“
„Bauernfeind ist der Industrielle?“
Prettner nickte allzu anerkennend über so viel Scharfsinn in seiner Behörde. Es war peinlich.
„Worin besteht der Kriminalfall?“, fragte Fuchs.
„Es könnte sich um eine gefährliche Drohung handeln“, erwiderte der Oberst. „Bauernfeind ging nicht ins Detail, aber er und seine Frau sind ernsthaft besorgt.“
Auch der LKA-Boss schien nun ernsthaft besorgt. Er wusste, was der Chefinspektor von solchen Gefälligkeitsaufträgen hielt, die gar nicht selten an ihn herangetragen wurden. Zu seiner Erleichterung bemerkte Fuchs jedoch bloß: „Ich fahre hin. Haben Sie die Adresse?“
Prettner, auf Widerstand eingestellt, wirkte verwirrt.
„Ja? Aber ja. Sie wohnen am Hubertushof, ziemlich entlegen. Der Weitensfelder Kollege lotst Sie hin.“
Fuchs wäre am liebsten sofort aufgebrochen, nur um mit seinen Kopfschmerzen hier wieder rauszukommen, doch ganz ohne Informationen wollte er nicht auf die Alm.
„Was können Sie mir über Ihren Jagdfreund erzählen?“, erkundigte er sich.
„Jagdfreund? Ach so. Er hat mich tatsächlich einmal eingeladen, aber das … Nun, Bauernfeind besitzt einen Autozulieferbetrieb in der Nähe von Rosenheim. Er beschäftigt mehr als dreitausend Leute. Höchst erfolgreiche Firma, doch sein Herz schlägt vor allem für das Weidwerk. Hat vor ein paar Jahren eine Liegenschaft in der Flattnitzer Gegend erworben, fünfhundertzwanzig Hektar. Er und seine Frau verbringen jede freie Minute dort.“
Bei der Erwähnung der fünfhundertzwanzig Hektar schlich sich ein wehmütiger Unterton in die Stimme des Obersts.
„Sie ist seine zweite Frau, mindestens so jagdbegeistert wie er. Ich glaube, sie verbringt einen Großteil des Jahres in Kärnten.“
„Hat er Probleme mit den Nachbarn? Mit anderen Jägern?“
„Nicht, dass ich wüsste“, entgegnete Prettner fast beleidigt. „Die Gemeinschaft der Jäger ist doch etwas …“
Er verstummte, als er den spöttischen Zug um Fuchs’ Mundwinkel wahrnahm.
„… etwas Besonderes“, ergänzte der trocken.
„Genau, aber jetzt muss ich los. Ich erwarte Ihren Bericht.“
Fuchs verfolgte den Abgang seines Chefs, rieb sich die Schläfen und griff zum Telefon.
„Ist Schilling hier?“
„Auswärts. Wegen …“
„Ja, egal. Wer ist da?“
„Prüller und Lerchenfelder.“
„Lerchenfelder. Ich erwarte sie in fünf Minuten im Hof.“
Die kleine Inspektorin mit den kurzen Locken und dem Temperament eines Stiers kam pünktlich. Sie registrierte die Sonnenbrille und fragte unverblümt: „Geschmacksverirrung oder Kater? Soll ich fahren?“
Er ging wortlos zur Beifahrerseite und stieg ein. Die Inspektorin startete und sah ihn fragend an.
„Nach Weitensfeld“, sagte er, „aber vorher zu einem Imbiss. Ich habe nicht gefrühstückt.“
„Okay.“ Sie lenkte den Wagen in Richtung Neuer Platz und parkte in der Einfahrt neben einer Fleischerei. Ein Lieferant, der aus dem blockierten Hof wollte, wartete eine Minute, dann öffnete er die Tür. Fuchs schaltete das Blaulicht ein, die Tür wurde wieder zugezogen. Lerchenfelder tauchte auf, warf dem Fahrer des Lieferwagens einen vernichtenden Blick zu und dem Chefinspektor einen Papiersack auf den Schoß. Sie aktivierte kurz die Sirene, stach rückwärts auf die Straße und fuhr los.
Fuchs öffnete die winzige Bierdose, leerte sie mit einem Schluck zur Hälfte und biss in die Semmel mit dem heißen Schweinsbraten. Als er fertig war, sagte sie: „Schlafen Sie. Reden können wir später. Mit der Brille erinnern Sie übrigens an einen Fernsehbullen aus dem vorigen Jahrhundert.“
Er nahm sie ab, schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als in Weitensfeld der Beamte zustieg, der sie zum Hochstand führen sollte. Der Mann hieß Leo Brunner und entpuppte sich als gesprächiger Landpolizist, mittelgroß, übergewichtig, mit kurz geschorenem weißem Haar und roten Wangen, die darauf hindeuteten, dass er sich ebenso gern an der frischen Luft aufhielt wie in den zahlreichen Gasthöfen seines Sprengels. Ein geselliger Typ, der oft lachte und mit funkelnden schlauen Augen Witze erzählte – und der fest entschlossen war, sich die letzten Monate bis zu seiner Pensionierung von nichts und niemandem verderben zu lassen.
Das alles erfuhren sie in den ersten paar Minuten ihrer Fahrt.
„Ich bin froh, dass Sie hier sind“, gestand der Inspektor unumwunden. „Es ist eine sonderbare Angelegenheit, irgendwie unheimlich. Ein Kollege sichert den Tatort, falls man von Tatort sprechen kann.“
„Was wissen Sie über Bauernfeind und seine Frau?“, fragte Fuchs.
Brunner hob die runden Schultern.
„Deutsche mit einem Haufen Geld, beide fanatische Jäger, ein bisschen überdrüber. Aber gute Jäger, wie es heißt, keine Idioten, die nur aufs Schießen aus sind.“
Kurz hinter der Ortschaft Flattnitz verließen sie die Hauptstraße und folgten dem Netz mehr oder minder holpriger Fahr- und Forstwege, die unzählige Abzweigungen und keine Hinweisschilder aufwiesen. Ohne die Anweisungen des Inspektors hätten sie sich hoffnungslos im Labyrinth verirrt. Irgendwann hielten sie am Ende eines Wegs. Sackgasse.
„Haben wir uns verfahren?“, wollte Fuchs wissen.
Brunner lachte herzlich.
„Von hier an heißt’s marschieren.“
Lerchenfelder trug immer feste Stiefel, ob in Uniform oder Zivil. Der Chefinspektor betrachtete missmutig seine Straßenschuhe.
„Ist es weit?“
„Etwa eine halbe Stunde“, entgegnete der einheimische Bulle gut gelaunt. „Seien Sie froh, dass es trocken ist.“
Fuchs’ Freude hielt sich in Grenzen. Der Pfad, den sie einschlugen, war steil und steinig und streckenweise mit einem Geflecht von Wurzeln überzogen, die wie dicke Krampfadern aus dem kargen Boden ragten und seinen dünnen glatten Sohlen keinen Halt boten. Er atmete erleichtert auf, als die Steigung endete und der Weg fast eben über eine Almwiese verlief, bis sie den Rand eines lichten Bergwalds erreichten und Minuten später den Stand mit der grotesk anmutenden Puppe. Ein uniformierter Beamter saß mit dem Rücken gegen einen Baum gelehnt und döste in der Sonne. Er rappelte sich auf, als die kleine Gruppe nahte, und salutierte lässig.
„Kein Mensch weit und breit“, meldete er und deutete zur blutigen Schaufensterfigur, die schlank, fleischfarben und gesichtslos an ihrem Strick baumelte. „Nicht einmal Fliegen.“
„Das ist zu hell für getrocknetes Blut“, sagte Lerchenfelder nach einer kurzen Prüfung. „Wahrscheinlich verdünnte Farbe oder Kunstblut.“
„Was bedeuten die Striche?“, fragte Fuchs.
„Sie zeigen den Verlauf der Schnitte, mit denen ein Jäger das Wild aufbrechen würde“, erklärte Brunner. Lerchenfelder, ein Klagenfurter Stadtkind ohne den geringsten Bezug zum Weidwerk, erstarrte.
„Die machen das direkt im Wald?“
„Freilich“, erwiderte ihr Führer. „Zuerst wird geschossen, dann folgt die rote Arbeit. Am besten in der Nähe eines Bachs.“
„Pfui Teufel!“, schimpfte die Inspektorin. „Ich habe immer gern aus klaren Bächen getrunken.“
Die einheimischen Polizisten wiegten bedenklich die Köpfe.
„Ich geh nie mehr wandern!“, entschied Lerchenfelder grimmig.
Fuchs umrundete die Puppe und wandte sich dann an Brunner.
„Eine Drohung oder Warnung, vielleicht auch ein roher Scherz. Wer kommt noch hier herauf?“
„Wanderer, der Förster natürlich, hin und wieder Gäste …“
So eine Aktion verriet eine ordentliche Portion Bosheit, die meistens einen Anlass hat. Der Chefinspektor erinnerte sich an Beutel voll stinkender Innereien auf dem Gartengrill des Nachbarn, an vergiftete Haustiere, verklebte Schlösser, geköpfte Blumenbeete und zerkratzte Autos. Steckte einfach Gehässigkeit dahinter, oder Neid?
„Gibt es Streit in der Jägerschaft?“
„Streit gibt’s immer wieder. Manche nehmen es nicht so genau mit den Reviergrenzen. Manchmal verlaufen die Grenzen auch so, dass automatisch Ärger entsteht. Zwischen einer benachbarten Jagdgemeinschaft und Bauernfeind gab’s schon öfter Krach wegen einer Enklave und eines Korridors.“
Der Chefinspektor starrte ihn an.
„Erklären Sie es mir bitte einfach.“
Brunner überlegte eine Weile.
„Stellen Sie sich vor, Sie besitzen ein großes Grundstück. Und fast ganz umschlossen von Ihrem Grund liegt wie eine Blase ein Grundstücksteil Ihres Nachbarn, der nur durch einen schmalen Streifen mit dessen Hauptparzelle verbunden ist. Im Prinzip kein Problem, aber das Wild schert sich um solche Konstruktionen halt überhaupt nicht.“
„Also ein Dauerkonflikt?“
„Mehr oder weniger. Eifersucht spielt auch eine Rolle. Der Deutsche taucht auf, wirft einige Millionen auf den Tisch, als sei das Kleingeld, und ist plötzlich Platzhirsch. Das stößt manchen sauer auf.“
„So sehr?“, fragte Fuchs und deutete auf die Puppe. Er erhielt keine Antwort. „Man muss sie ja auch herschleppen“, fügte der Chefinspektor mehr für sich selbst hinzu. Dann fasste er doch einen Entschluss.
„Mir gefällt das nicht. Rufen Sie die Spurensicherung“, wies er Lerchenfelder an. An die örtlichen Beamten gerichtet sagte er: „Einer von Ihnen muss hierbleiben, einer bringt uns zum Hubertushof und führt anschließend die Haarklauber hierher.“
„Der Professor wird jubeln“, murmelte die Inspektorin in Anspielung auf das heftige Temperament des Klagenfurter Chefforensikers.
„Ja“, bestätigte Fuchs düster.
Beim Abstieg schwebte er ständig in Sturzgefahr. Trotzdem fühlte er sich besser. Die Bewegung tat ihm gut. Sie fuhren zwanzig Minuten auf abenteuerlichen Wegen durch die leuchtende Landschaft, querten eine Weide mit adrettem Grauvieh und ein flaches Bachbett und gelangten schließlich auf die Hubertushofstraße, die fast luxuriös wirkte: breit, gepflegt, mit einer Deckschicht aus gewalztem Splitt und Entwässerungsrinnen aus Metall.
Sie hielten neben der Garage. Etwas abseits parkte ein kleiner Suzuki.
„Gehört der Luise“, bemerkte der Weitensfelder Polizist, dem in seinem Bezirk nichts unbekannt war. „Kommt jeden Tag ein paar Stunden, bringt manchmal eine Putzfrau mit und kocht.“
Fuchs ließ seinen Blick von den Höhenrücken im Norden bis zu den weit entfernten Karawanken im Süden schweifen. Kärnten liefert schöne Aussichten am Fließband, die hier zählte zur Premiumklasse.
Ein Paar im Jagdkostüm saß auf der offenen Veranda in der Sonne, eine junge Frau in weißem Arbeitskleid trug eben ein Tablett ins Innere des Hauses. Der Mann erhob sich, winkte und rief: „Inspektor Brunner, kommen Sie doch!“
Es klang sehr jovial und sehr deutsch.
„Herr und Frau Bauernfeind“, murmelte Fuchs. Brunner nickte. Der Chefinspektor ging voran und betrat die Veranda.
„Chefinspektor Fuchs“, stellte er sich vor. „Vom Landeskriminalamt. Das ist Inspektorin Lerchenfelder.“
Hände wurden geschüttelt, ein zweiter Tisch und Stühle herangezogen, dann nahmen alle Platz. Die junge Bedienstete, die Fuchs für Luise hielt, servierte Kaffee und Wasser und ungefragt ein kleines Glas Cognac für Inspektor Brunner, der damit seinen Kaffee veredelte.
„Ein Kaiserwetter, nicht wahr?“, sagte Bauernfeind in einem Ton, als ob er persönlich dafür verantwortlich sei. Fuchs dachte an Oberst Prettner, der den gleichen Ausdruck gewählt hatte – und sogar den gleichen Tonfall. Prettner waren diese Leute wichtig …
„Was denken Sie über die Puppe?“, fragte er.
Die Gesichter der Eheleute veränderten sich. Marie Bauernfeind warf einen Blick auf Brunner, der mit seinem getunten Kaffee beschäftigt war, und schüttelte kaum merklich den Kopf. Fuchs verstand, sah auf die Uhr und sagte: „Sie müssen los, Inspektor. Die Spurensicherung.“
Die Augen des Weitensfelder Beamten funkelten immer noch schlau.
„Mit Ihrem Wagen?“
Lerchenfelder gab ihm den Schlüssel, Brunner trank aus, stand auf, hob grüßend die Hand und ging.
Marie Bauernfeind sagte leise: „Wir glauben, wir wissen, wer dahintersteckt.“
Sie lief ins Haus und kehrte mit einer Ansichtskarte zurück. Fuchs nahm sie und betrachtete eine Häuserzeile aus der Gründerzeit des 19. Jahrhunderts mit einem Brunnen und dem Aufdruck „Rosenheim“. Auf der Rückseite stand in ordentlichen Druckbuchstaben: „Wir beide wissen es. M. L.“
Er reichte die Karte an Lerchenfelder weiter und lehnte sich zurück: „Erzählen Sie.“
„Es ist neun Jahre her“, begann Josef Bauernfeind. „In einer Jagd westlich vom Tegernsee ereigneten sich ein paar Vorfälle, die für ziemliche Aufregung sorgten. Die Medien stürzten sich darauf und im Handumdrehen entstand eine Initiative gegen die Jägerei im Allgemeinen.“
„Was für Vorfälle?“, fragte Lerchenfelder.
„Angeblich wurden auf Spazierwegen mehrere nicht angeleinte Hunde absichtlich von ihren Besitzern weggelockt und dann erschossen. Absurd.“
Die Inspektorin wollte etwas darauf erwidern, doch Fuchs kam ihr zuvor.
„Und was hat die Karte damit zu tun?“
„Markus Leitner war einer der Hundebesitzer. Ein quirliger Bursche, klein und bissig, ein geborener Aufrührer. Wir, also Marie und ich, waren im Jagdverband aktiv und hatten ein paar heftige Auftritte mit ihm.“
Seine Frau übernahm das Wort.
„Als die Stimmung schon sehr gereizt war, kam eine Redakteurin zu uns und schlug eine Homestory vor. Sie meinte, wir sollten den Leuten zeigen, dass wir keine blutrünstigen Monster sind, sondern ganz normale Menschen mit einem Hobby.“
„Sie hat uns reingelegt“, setzte der Ehemann fort. „Jedenfalls konzentrierten sich die Fotos auf unseren Waffenschrank und die Trophäen. Eines zeigte Marie beim Vogelfüttern, weil das so nett aussieht. Rüber kam nur, dass sie dabei einen Nerzmantel trug. Dann eskalierte die Situation.“
„Inwiefern?“, fragte Fuchs, als beide schwiegen.
„Ich wurde entführt“, erwiderte Frau Bauernfeind leise. „Von vier Personen mit Kapuzen. Sie sperrten mich in einen Keller und sagten, sie würden mich häuten, wie meine Nerze gehäutet worden waren. Dann ließen sie mich eine Weile allein, ich hatte entsetzliche Angst. Sie kamen wieder, hielten mich fest und rasierten mir den Kopf kahl. Sie nannten es symbolische Häutung. Ich bekam einen Arm frei und schlug nach ihnen, einer verlor seine Kapuze, es war Leitner. Sie banden mich an einen Sessel. Drei verschwanden anschließend, ich bin sicher, es handelte sich um Frauen, Leitner blieb mit mir allein. Nach einer Stunde ließ er mich gehen.“
„Obwohl sie ihn erkannt hatten?“
Sie nickte.
„Er sei Tierschützer, sagte er und kein Mörder wie wir. Und das Gericht würde ihm eine tolle Plattform bieten, um dies ins rechte Licht zu rücken. So malte er sich das aus. Aber es funktionierte nur so lange, bis die Leute erfuhren, was er mir angetan hatte, als wir nach meiner ‚Häutung‘ allein waren.“
„Hat er Sie missbraucht?“, fragte Lerchenfelder.
Marie Bauernfeind nickte wieder, ihr Mann legte seinen Arm um ihre Schultern.
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